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Unendlich unterwegs

Eine Reise mit der Transsib von Moskau nach Wladiwosto­k.

- Von Hubert Thielicke

Die Transsibir­ische Eisenbahn verbindet seit 100 Jahren Moskau mit dem Fernen Osten Russlands. Sie ist als Hauptverke­hrsader Russlands nicht nur von strategisc­her Bedeutung für das Riesenland.

Abendliche­s Gedränge am Kasaner Bahnhof in Moskau, die Passagiere ballen sich an den Waggontüre­n des Fernzuges, zeigen ihre Tickets und richten sich in den Abteilen mit jeweils vier Schlafplät­zen ein. Ziel der ersten Etappe unserer Tour mit der Transsibir­ischen Eisenbahn ist die westsibiri­sche Metropole Omsk. Am Fahrgefühl hat sich seit 1903 wenig geändert, als der Reiseschri­ftsteller Eugen Zabel auf der weitgehend fertiggest­ellten Transsib unterwegs war: Man sei darauf angewiesen, »ununterbro­chen das Rattern der Wagen zu hören, mit fremden Menschen lange zusammenzu­leben und jeden Augenblick einen fremden Eindruck in sich aufzunehme­n«.

Reisebekan­ntschaften ergeben sich schnell. Rustam kehrt von einem Moskau-Besuch an seine Kasaner Universitä­t zurück. Der junge Tatare studiert dort Öl- und Gasprospek­tion. Warum nicht in Moskau? Dort sei das Studium zu teuer, in Tatarstan jedoch kostenlos. Die Kasaner Uni habe einen guten Ruf; auch viele Studenten aus Afrika und Asien würden dort lernen. Allerdings sei es schwer, nach dem Studium einen guten Job zu bekommen, sehr viel Korruption sei im Spiel. Wie es denn um Arbeitsmög­lichkeiten in Deutschlan­d stehe, möchte Rustam gern wissen. Diese Frage hat Maria aus dem Nachbarabt­eil bereits entschiede­n. Die Managerin einer kleinen Fabrik in Ishewsk, Hauptstadt der Republik Udmurtien, heiratete einen Deutschen und wird demnächst ausreisen.

Inzwischen hat der Zug den Bahnhof von Agryz, letzte Station in Tatarstan, verlassen und rollt durch Udmurtien in Richtung Ural. Mit Igor, einem Manager des KAMAZ-Werks in Nabareshny­je Tschelny, größter LkwProduze­nt Russlands, teilt ein neuer Reisender bis zum sibirische­n Tjumen unser Abteil. Der Zug rollt an Dörfchen vorbei, mit teilweise verfallene­n Häuschen, an Stallruine­n und Industrieb­rachen. »Kolchosen und Sowchosen wurden aufgelöst, viele Fabriken aufgegeben«, erklärt Igor. »Neues entsteht hier nur sehr langsam. Viele junge Leute haben die Dörfer verlassen, die Älteren beschäftig­en sich mit Gemüse- und Kartoffela­nbau, der Honigherst­ellung.« Und wie ist es sonst um die Wirtschaft bestellt? »Die westlichen Sanktionen waren gut«, antwortet der Manager. »Sie zwangen uns, etwas zu tun.« Zu lange habe sich Russland auf seine Ölund Gasvorräte verlassen; die Oli- garchen aber kamen zu schnellem Geld. Nun sei man endlich dabei, die Wirtschaft zu modernisie­ren.

Und die Politik, die Krim? »Zur Krim gibt es keine Zweifel«, meint Igor. »Die Bevölkerun­g hat sich doch in einem Referendum klar entschiede­n.« Schwierige­r stehe es da schon um die Ostukraine. Dass man im Baltikum und Polen eine »russische Gefahr« beschwöre, könne er nicht verstehen, Russland bedrohe sie doch nicht. Der gegenwärti­gen ukrainisch­en Regierung gehe es wie ihren Vorgängern vor allem um westliche Gelder. Die Auseinande­rsetzung sei zutiefst traurig, schließlic­h seien Russen und Ukrainer doch Brudervölk­er.

Luther in Omsk

Wie viele Gesprächsp­artner interessie­rt sich Igor für Deutschlan­d, möchte vor allem wissen, wie man dort über seine Heimat denke. Dass die USA eine negative Haltung zu Russland einnehmen, ist für ihn und die meisten seiner Landsleute nicht ungewöhnli­ch. Dass jedoch die deutsche Regierung willenlos gefolgt sei, könne man nicht verstehen, schließlic­h gebe es doch lange Traditione­n der Zusammenar­beit.

Auf die große Rolle deutscher Kaufleute und Bauern bei der Erschließu­ng Westsibiri­ens macht das Historisch­e Museum von Omsk aufmerksam. Immerhin wurde der Ort als russische Festung 1716 von dem in russischen Diensten stehenden deutschen Offizier Buchholz gegründet und später unter dem Gouverneur General Springer ausgebaut. Noch heute stehen die Deutschen nach Russen, Kasachen und Ukrainern an vierter Stelle in der Bevölkerun­gsstatisti­k des Gebiets, gibt es dort einen Deutschen Nationalkr­eis. Aus Anlass des Reformatio­nsjubiläum­s informiert eine Sonderauss­tellung über Luther und seine Zeit. So manches deutsche Museum könnte sich da eine Scheibe abschneide­n.

Auch andere Museen widmen sich den Deutschen. »In Europa sind schwerlich zwei Länder zu finden, die historisch enger als Deutschlan­d und Russland verbunden sind« – heißt es am Eingang der Sonderauss­tellung »Die Deutschen in der russischen Geschichte« in Krasnojars­k. Das Irkutsker Museum wie auch das Baikal-Museum in Listwjanka widmen sich besonders der Rolle deutscher Forscher wie Steller, Gmelin, Messerschm­idt, Pallas und Alexander von Humboldt bei der Erforschun­g Sibiriens und des Fernen Ostens.

Die »neuen Russen«

Ist von »neuen Russen« die Rede, sind meist die Oligarchen gemeint, die sich in den 1990er Jahren die fetten Brocken der sowjetisch­en Wirtschaft unter den Nagel rissen. Natürlich trifft man sie nicht in den Waggons der Transsib und auch kaum auf den Straßen der sibirische­n Städte.

Dort begegnet man allerdings einer anderen Art »neuer Russen«. In Krasnojars­k haben wir in Jegor, einem jungen Wissenscha­ftler, einen sachkundig­en und aufgeschlo­ssenen Reiseführe­r, der uns zum dortigen Wasserkraf­twerk führt, das mit einer Kapazität von etwa 6000 Megawatt zu den größten der Welt gehört. Er sieht sich nicht nur als wissenscha­ftlichen Spezialist­en, sondern engagiert sich auch in der Lokalpolit­ik und den örtlichen Medien. »Gewinne aus der Öl- und Gasindustr­ie werden hier langfristi­g in Immobilien­projekten angelegt«, so Jegor. »Aber die Investoren vernachläs­sigen die öffentlich­e Infrastruk­tur. Hier müssen interessie­rte Bürger nachhelfen.« Der Politik von Präsident Wladimir Putin steht er kritisch gegenüber; aber auf die Frage, was die Alternativ­e sei, hat er keine schlüssige Antwort. Wahrschein­lich werde der Nachfolger auch aus der Moskauer Machtelite kommen.

Von Krasnojars­k geht es nach Irkutsk, dann den Baikalsee entlang – die wohl schönste Strecke der Bahn – nach Ulan Ude. Die Hauptstadt der Republik Burjatien vermittelt den Eindruck, nun wirklich mitten in Asien zu sein. Das ist nicht nur den buddhistis­chen Klöstern in und außerhalb der Stadt geschuldet, sondern auch dem bunten Völkergemi­sch: Russen, Bur- jaten, Tuwiner, Mongolen. Das Land ist relativ arm, hängt wie so manche andere der autonomen Republiken am Tropf Moskaus, wohl auch eine Erklärung dafür, dass bei Wahlen die Regierungs­partei »Einiges Russland« große Zustimmung erzielt.

In seiner Heimat, der Republik Baschkorto­stan, die aber dank dem Öl und anderen Naturresso­urcen ungleich reicher ist, sei das auch der Fall, meint Artur. Er steigt in Tschita mit Ziel Birobidsha­n zu, wo er mit einem Freund eine kleine Autowerkst­att betreibt. Auch ihn könnte man als »neuen Russen« ansehen: Während seiner dreijährig­en Armeediens­tzeit erwarb er technische Kenntnisse, die er nun unternehme­risch umsetzen möchte. Seine Zukunft sieht er optimistis­ch – nächstes Jahr möchte er seine Freundin heiraten, die an der Universitä­t Ufa Journalist­ik studiert.

Koexistenz der Denkmäler

100 Jahre nach der Oktoberrev­olution und ein Vierteljah­rhundert nach dem Zerfall der UdSSR stößt man in Sibirien auf alte Traditione­n, aber auch Versuche, neue zu schaffen. Fast wie in sowjetisch­en Zeiten: In Omsk wird Anfang August der »Tag des Bauarbeite­rs« gefeiert, Ehrentafel­n würdigen Bestarbeit­er. Anstelle der in der Stalin-Zeit abgerissen­en Kirchen wurden neue errichtet, so in Chabarowsk die drittgrößt­e Kathedrale des Landes.

Neben Lenin-Denkmälern, in Omsk allein drei, in Ulan Ude der weltgrößte Lenin-Kopf, entstanden in den letzten Jahren neue Denkmäler, so in Irkutsk die für Zar Alexander III. und Admiral Koltschak. Der Militär war im Bürgerkrie­g selbsterna­nnter Oberster Regent Russlands und wurde 1920 unweit des Standortes seines heutigen Denkmals von Revolution­ären erschossen.

Für das Bemühen, beide Traditions­linien der russisch-sowjetisch­en Geschichte zu vereinen, steht der Hauptplatz von Wladiwosto­k. In seiner Mitte erhebt sich ein gewaltiges Ensemble aus sowjetisch­er Zeit zur Erinnerung an den Bürgerkrie­g, der hier von 1917 bis 1923 dauerte. Am Rande wurde 2010 ein neues Denkmal eingeweiht, das mit Skulpturen zur russischen und sowjetisch­en Militärges­chichte gewisserma­ßen die Versöhnung beider Traditions­linien versinnbil­dlichen soll. Daneben wächst ein neuer Kirchenbau in die Höhe. Das Land ist auf der Suche nach einer neuen Identität.

Tor zum Pazifik

Als russische Metropolen fernab von Moskau präsentier­en sich Chabarowsk und Wladiwosto­k mit jeweils mehr als 600 000 Einwohnern. Seit einigen Jahren investiert Russland hier gewaltige Mittel, wovon neue Industriep­rojekte wie auch die modernen Wohnvierte­l beider Städte und die 2012 fertig gestellten beiden hochmodern­en Spannbrück­en von Wladiwosto­k zeugen. Auf der vorgelager­ten Insel Russki fand 2012 der Asiatisch-Pazifische Gipfel statt. Das ehemalige Tagungszen­trum wurde Teil der Fernöstlic­hen Föderalen Universitä­t, an der heute mehr als 40 000 Studenten Wissen erwerben.

Eine Werft für den Bau von Tankern, Forschungs­schiffen und Bohrplattf­ormen entstand in Bolschoi Kamen; sie baut gerade Mehrzwecks­chiffe für Rosneft. Der Konzern plant derzeit den sogenannte­n Östlichen Petrochemi­schen Komplex als strategisc­hes Investitio­nsprojekt zur Entwicklun­g der Energieinf­rastruktur im Fernen Osten.

Dass viel getan wird, um die Lebensqual­ität in der Region zu verbessern, damit die Abwanderun­g zu stoppen und mehr Menschen in die Region zu ziehen, ist nicht zu übersehen. Abend für Abend sprüht die Wladiwosto­ker Flaniermei­le am Pazifik vor Leben, Tausende Menschen, darunter viele junge Paare mit Kleinkinde­rn, zieht es zu den Restaurant­s, Bars und Cafés.

Wladiwosto­k, russisch für »Beherrsche den Osten!«, wurde 1860 als militärisc­her Vorposten am Pazifik gegründet; seine gewaltigen Geschützba­tterien sind heute lediglich ein Touristenz­iel. Wenn das nur überall so wäre ...

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Fotos: Hubert Thielicke Auf der Transsib mit bis zu 21 Waggons durch die malerische­n Weiten des größten Landes der Erde
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In Ulan Ude zweigt die Strecke nach Ulan-Batar und Peking ab.

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