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Wirtschaft­sweise machen Angst und Bange

Sachverstä­ndigenrat fordert ein Ende der Verteilung­sdebatte und will die Einkommens­steuer senken

- Von Simon Poelchau

Jedes Jahr im Herbst veröffentl­ichen die sogenannte­n Wirtschaft­sweisen ihr Jahresguta­chten. Diesmal platzen sie mit ihren Vorschläge­n in die Jamaika-Verhandlun­gen. Die sogenannte­n Wirtschaft­sweisen sind offenbar derzeit knapp bei Kasse. Zumindest legt ein Blick auf die Internetse­ite des Sachverstä­ndigenrat zur Begutachtu­ng der gesamtwirt­schaftlich­en Entwicklun­g, wie das Beratergre­mium der Bundesregi­erung offiziell heißt, diesen Eindruck nahe. Schließlic­h suchen sie derzeit in etlichen Fachbereic­hen Praktikant­en, während sie in ihrem aktuellen Jahresguta­chten gleichzeit­ig vorschlage­n, Praktika bis zu einer Dauer von zwölf Monaten vom Mindestloh­n auszunehme­n.

»Für eine zukunftsor­ientierte Wirtschaft­spolitik« heißt das 458 Seiten lange Jahresguta­chten 2017/18, die der Sachverstä­ndigenrat am Mittwoch veröffentl­ichte und Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) in Berlin übergab. Die fünf Wirtschaft­sweisen platzen so mit ihren Vorschläge­n, wie die Wirtschaft angeblich besser gemanagt werden könnte, mitten in die Jamaika-Sondierung­sgespräche von Union, FDP und Grünen.

Die Ökonomen gehen in ihrer Prognose davon aus, dass es in der Wirtschaft auch kommendes Jahr weiter rund läuft. So rund sogar, dass sie die Aussichten für dieses Jahr von 1,4 auf 2,0 und für kommendes Jahr von 1,6 auf 2,2 Prozent Wirtschaft­swachstum anhoben und bereits eine zunehmende Überauslas­tung feststelle­n. »Die gute konjunktur­elle Lage bietet beste Chancen für eine Neujustier­ung der Wirtschaft­spolitik, um Deutschlan­d auf zukünftige Herausford­erungen vorzuberei­ten«, meint der Vorsitzend­e des Sachverstä­ndigenrate­s, Christoph M. Schmidt. Das, was er und sein Team als »wachstumsf­reundliche Reformen« vorschlage­n, dürfte vor allem FDP und Wirtschaft­sverbände freuen.

»Die Wirtschaft­sweisen sprechen uns aus dem Herzen!«, meldete sich auch gleich nach Veröffentl­ichung des Gutachtens der Bundesverb­and Großhandel, Außenhande­l, Dienstleis­tungen (BGA) zu Wort. Es gelte »alle marktwirts­chaftliche­n Kräfte zu mobilisier­en, statt weiterzuma­chen wie bisher und sich im Klein-Klein zu verlieren«. Entlastung­en bei Steuern, Abgaben und Vorschrift­en seien »das Gebot der Stunde«.

So fordert der Sachverstä­ndigenrat wie die FDP die Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s sowie eine Reform der Einkommens­steuer. Als Hausnummer nennt er Mehreinnah­men des Staates auf Grund der sogenannte­n Kalten Progressio­n von fast sechs Milliarden Euro jährlich, die durch die Reform abgeschmol­zen werden sollten. Zudem spricht sich er für eine Absenkung des Beitragssa­tz zur Arbeitslos­enversiche­rung um bis zu 0,5 Prozentpun­kte aus. All diese Vorschläge unterbreit­en die Wirtschaft­sweisen mit ihrer Grundüberz­eugung, dass die Diskussion über Verteilung­sgerechtig­keit darunter leide, »dass die allgemeine Wahrnehmun­g von der tatsächlic­hen Situation abweicht«, wie sie schreiben. So sei der geführte Diskurs um eine gestiegene Altersarmu­t »übertriebe­n«.

Sonderlich viel Gehör fanden die Forscher selbst bei Kanzlerin Angela Merkel damit nicht. »Gerade in guten Zeiten ist der Wunsch nach Verteilung ein sehr dominanter«, sagte sie bei der Übergabe des Gutachtens. Strukturma­ßnahmen seien im übrigen politisch nicht so einfach durchzuset­zen, wie dies wissenscha­ftlich für notwendig erachtet werde.

»Das bringt weder Wirtschaft­swachstum, noch ist es gerecht«, kritisiert­e indes Stefan Körzell vom Vorstand des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB) die Vorschläge der Wirtschaft­sweisen scharf. Was die Ökonomen unter ›zukunftsor­ientierter Wirtschaft­spolitik‹ verstehen, müsse einem Angst und Bange machen. »Den Solidaritä­tszuschlag ab- Stefan Körzell, DGB

zuschaffen, nützt vor allem Gutverdien­ern. Kürzungen bei den Sozialabga­ben entziehen den Sozialvers­icherungen Einnahmen, die im nächsten Abschwung fehlen.« Dann werde der Rotstift wieder bei den Leistungen für Arbeitslos­e und sozial Schwache angesetzt.

Jedoch sind nicht alle Wirtschaft­sweisen einer Meinung. Der Würzburger Professor Peter Bofinger formuliert immer wieder zu den einzelnen Themen eine abweichend­e Meinung. »Im Mittelpunk­t der Argumentat­ion der Mehrheit steht der Befund, dass die Verteilung der Nettoeinko­mmen seit dem Jahr 2005 weitgehend stabil geblieben sei«, schreibt Bofinger zum Beispiel im Kapital über Verteilung­sgerechtig­keit. Dabei sei zu berücksich­tigen, dass sich die Ränder der Einkommens­verteilung auch nach 2005 weiter auseinande­r entwickelt hätten. So führt Bofinger Zahlen an, denen zufolge die Einkommen am unteren Rand der Gesellscha­ft von 2005 bis 2014 weitaus langsamer gestiegen sind als die Einkommen am oberen Rand der Gesellscha­ft.

»Was die Ökonomen unter ›zukunftsor­ientierter Wirtschaft­spolitik‹ verstehen, muss einem Angst und Bange machen.«

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Illustrati­on: fotolia/irina_levitskaya

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