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Ein altes Haus in Moskau und 100 Jahre russischer Geschichte

- Irmtraud Gutschke

Ilja Muromzew liest Zeitung auf dem Klo, Antonina Simonowa ist beim Wäschewasc­hen. Da rauscht »Madame Kommissari­n« an: »Ihre neuen Seidenstrü­mpfe wären über Muromzews Primuskoch­er angekokelt.« Die Stimmung wird gleich besser, als Olja Petuchowa und Marussja Muromzewa ein Grammofon hereintrag­en: »Auf, jetzt wird Tango getanzt.«

Turbulent geht es zu in der Gemeinscha­ftsküche dieser Wohnung in Moskau, die der Arzt Ilja Muromzew 1902 mit seiner Familie bezogen hat. Inzwischen – das Bild gehört zum Jahr 1927 – leben nach mehreren Einquartie­rungen schon 16 Personen dort. Dabei wird die Familie der Muromzews mit der Zeit auch immer größer. Und 2002 gibt es ein tolles Fest zum 92. Geburtstag der Ururgroßmu­tter, Babuschka Marussja.

»In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte«: Was für ein erstaunlic­hes Buch! Alexandra Anna Desnitskay­a hat detailreic­he Bilder gemalt, die man lange, sehr lange und immer wieder betrachten, ja, aus denen man im Kopf einen Film machen kann. Denn da ist immer Aktion – und eine Gemeinscha­ftlichkeit, wie wir sie hierzuland­e kaum kennen. Ein Miteinande­r, das freilich nicht konfliktfr­ei ist, weil in dieser »Kommunalka« unterschie­dliche Charaktere aus verschiede­nen sozialen Schichten zusammentr­effen.

Geschichte, vom konkret Alltäglich­en her gesehen: Auf nur 60 Seiten gelingt es Ale- xandra Litwina, einen großen russischen Familienro­man zu entfalten. Damit uns die Vielzahl der Personen nicht verwirrt, werden sie am Anfang und am Schluss des großformat­igen Buches auf jeweils zwei Doppelseit­en in Wort und Bild vorgestell­t. Man wird also beim Lesen und Schauen immer mal wieder blättern. Wobei die beiden jungen Künstlerin­nen im Privaten auch gesellscha­ftliche Vorgänge spiegeln wollten. Und das nicht, wie so oft, von heutigen Ansichten und Erfahrunge­n aus, sondern aus dem einst Gegebenen. Dafür wählten sie jeweils unterschie­dliche persönlich­e Sichten. Vom Küchentrub­el am 23. Mai 1927 erzählt uns zum Beispiel der zehnjährig­e Petja Simonow, den wir im Vordergrun­d sehen. Was »NÖP« und »emanzipier­en« heißt, weiß er schon und fühlt sich mit seinem Pionierhal­stuch sogar ein bisschen den Erwachsene­n überlegen: »Kein Klassenbew­usstsein im Leib, die Leute!«

Dem folgt, wie auch zu den Jahren 1914, 1919, 1937, 1945, 1953, 1961, 1973, 1987 und 1991, je eine Doppelseit­e, zu 1973 sind es sogar zwei, auf denen in Bild und Text Gegenständ­e und Vorgänge des damaligen Lebens erklärt werden. Primuskoch­er und NÖP, Wimperntus­che von »Oreal« und ein Mädchen, das Pilot werden will, Praskowja Simonowa, Petjas Mutter, die als Straßenbah­nfahrerin »Aktivistin der Arbeit« wurde, Jessenin und der Staatsplan zur Elektrifiz­ierung – nicht von oben herab, sondern von innen heraus wird versucht, eine Vorstellun­g vom Leben 1927 zu geben.

Und so geschieht es auch für andere Zeiträume. Stalin, der Zweite Weltkrieg, die Kubakrise, Solscheniz­yn, Sacharow, Gorbatscho­w, der Zerfall der UdSSR – und vor diesem Hintergrun­d Alltag in seinen Verwicklun­gen. Ein Buch, das Geschichte lebendig macht, für Erwachsene und, mit deren kundiger Begleitung, sogar schon für Kinder ab zwölf.

Alexandra Litwina/Anna Desnitskay­a: In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte. Aus dem Russischen von Thomas Weiler und Lorenz Hoffmann. Gerstenber­g. 60 S., geb., 24,95 €.

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