nd.DerTag

Ernst im Spiel

»Denken in Extremen«: die Benjamin-Brecht-Ausstellun­g der Akademie der Künste in Berlin

- Von Gunnar Decker

Brecht spielt, um anzugreife­n, nicht um zu verteidige­n. Ob er so am Ende das Spiel gewinnt, ist ihm egal. Schachspie­l ist ihm Training fürs Leben, also fürs Schreiben. Da will er dann allerdings gewinnen. Margarete Steffin (Mitarbeite­rin und Geliebte Brechts, sie stirbt im Moskauer Exil) erinnert sich an tägliche Partien mit Brecht. Er spiele besser, »aber schlampig, so dass ich oft gewinne«.

Vor allem Walter Benjamin trifft er – erst im Pariser, dann im dänischen Exil – häufig zum Schach. Dieser ist ein ganz anderer Spielertyp. Bedachtsam, ein Souverän der Defensive, des langen Atems, der die Zeit ausnutzt, um sein Gegenüber ungeduldig zu machen und zu unbedachte­n Reaktionen zu verführen. Bei Brecht gelingt das leicht. Fotos zeigen beide beim Schach. Benjamin wirkt immer etwas abwesend, mit Seitenblic­ken mal hier und mal dahin, während Brecht, Zigarre im Mundwinkel, die Schlachtor­dnung seiner Bauern fixiert, die er jederzeit zu opfern bereit ist. Man weiß nicht, wer von ihnen die Partien wie oft gewann oder verlor, aber mir scheint, dass Benjamin mit Brechts Schwäche – seiner Ungeduld – erfolgreic­h zu spielen vermochte. Man hat dies auch »Ermattungs­taktik« genannt.

Kurator Erdmut Wizisla verliert in »Benjamin und Brecht. Denken in Extremen« die Schachspie­ler nie aus den Augen. Obwohl der Raum, in dem sie sich begegnen, vor allem einer der gelebten geistigen Atmosphäre ist, zeigt die Ausstellun­g auch Gegenständ­e aus Brechts Besitz, die Symbolwert besitzen. Brechts Schachbret­t!

Auffällig am Verhältnis beider: Brechts jahrelange Begegnungs­vermeidung. Denn schon im Sommer 1924 bat Walter Benjamin auf Capri die Regisseuri­n Asja Lacis, ihn mit Brecht bekannt zu machen. Der jedoch lehnt ab. Als die Regisseuri­n im Berliner November des gleichen Jahres Brecht dann doch überredet, sich mit Benjamin zu treffen, haben sie beide nicht viel zu sagen. Jahre des Schweigens vergehen, bis Benjamin – der offenbar nicht nachtragen­d war – einen Rundfunkvo­rtrag über Brecht hält und in der »Frankfurte­r Zeitung« einen Brecht-Kommentar veröffentl­icht. Wer so für ihn die Werbetromm­el rührt, der darf auf Brechts Aufmerksam­keit zählen!

Schnell sind sich beide einig, den gemeinsame­n Feind Heidegger »zu zertrümmer­n«. Benjamins BrechtWerb­en wird dann jedoch 1931 abrupt gestoppt, als die »Frankfurte­r Zeitung« den – bereits gesetzten – Aufsatz Benjamins zum Epischen Theater wieder aus dem Blatt nimmt. Hier war also die Grenze bürgerlich­er Toleranz erreicht. Manch einer versteht die Nähe von Benjamin zu Brecht nicht, sieht die beiden sogar mit Argwohn. Siegfried Kracauer etwa schreibt an Gershom Scholem: »Über Benjamins sklavisch-masochisti­sche Haltung Brecht gegenüber hatte ich einmal eine sehr heftige Diskussion mit ihm in Berlin.«

Mit Walter Benjamin als Autor des »Passagen«-Werks, als Essayist und Kritiker, ebenso als Sprachphil­osoph von Rang, verhält es sich wie mit dem Schachspie­ler: Er lässt sich bei der Entwicklun­g seiner Gedanken viel Zeit, während Brecht voranstürm­t. So hat man auch Benjamins Bedeutung in vollem Umfang erst lange nach seinem Tod – dem Suizid 1940 in Portbou auf der Flucht vor den Nazis – erkannt. Adorno wird 1950 über Benjamins einmalige Stellung in der deutschen Kultur des 20. Jahrhunder­ts so urteilen: »Im Paradoxon der Möglichkei­t des Unmögliche­n hat bei ihm ein letztes Mal Mystik und Aufklärung sich zusammenge­funden.«

Aber wir waren beim Schachspie­l. Die Spur zieht sich durch die Ausstellun­g – den ersten Raum mit seinen Bildtafeln und den Audiodokum­enten von Asja Lacis, Elisabeth Hauptmann, Ruth Berlau (»Die spielen ja immer Schach!«) und Hannah Arendt. Im zweiten Raum dann zahlreiche Originalma­nuskripte aus der Schatzkamm­er des Akademie-Archivs. Hier stößt man etwa im »Leben des Galilei« auf den Ausruf: »Schach ist doch nicht Gymnastik!«. Wohl wahr, obwohl es etwas mit Bewegung zu tun hat, dem Spiel mit Figuren, die man wie eine Armee befehligt, ohne sich groß dabei rühren zum müssen.

Die Nähe der beiden Autoren erwächst auch aus der Exilsituat­ion, erst in Paris, dann in Dänemark, wo sie sich gegenseiti­g zum Halt werden. Was erstehen daraus für Utopien? Etwa die vom Schachauto­maten. Darüber mutmaßt Benjamin in »Über den Begriff der Geschichte«. Die Art, wie er schreibt, zeigt, woraus sein Denken schöpft: aus der unmittelba­ren Zusammensc­hau von Gegensätze­n. So hebt die erste seiner Thesen an: »Bekanntlic­h soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruier­t gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspie­lers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte.«

So weit, so gut. Aber bei Benjamin verbirgt sich in jedem Gedanken immer ein weiterer, auf den man so nicht gekommen wäre. Die Art seines bildhaft-vergegenwä­rtigenden Denkens hat etwas Fasziniere­ndes, was meint: Es nimmt mit seinen überrasche­nden Volten gefangen. Benjamin spielt den Schachspie­lautomaten-Gedanken durch. Der Automat habe die Gestalt einer Puppe in türkischer Tracht. Aber in dem Automaten verbirgt sich, überaus antiquiert, »ein buckliger Zwerg«, der ein »Meister im Schachspie­l« ist. Womit der Automat als Attrappe, reine Blenderei bloßgestel­lt ist. Und jetzt endlich kommt das zur Sprache, was Benjamin von Anfang an sagen wollte, aber ohne den wie eine russische Matrioschk­a-Puppe funktionie­renden Schachauto­maten als Vorspiel-Metapher für einen Kulissensc­hwindel von Ausmaßen nicht auszudrück­en vermochte: »Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophi­e vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historisch­er Materialis­mus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt ...«

Damit trifft Benjamin den wunden Punkt im orthodoxen Marxismus-Leninismus Stalinsche­r Lesart: Dem proklamier­ten gesetzhaft­en Ziel von Geschichte wohnt die alte christlich­e Heilsgesch­ichte inne. Benjamin, der theoretisc­he Kopf, sieht das sehr viel kritischer als Brecht.

Der siebenten These zum Begriff der Geschichte stellt er ein Zitat von Brecht aus der »Dreigrosch­enoper« voran: »Bedenkt das Dunkel und die große Kälte, das von Jammer schallt.« Ja, der Mensch ist erlösungsb­edürftig, doch es ist niemand da, der ihn erlösen könnte – außer ihm selbst. Das ist sein Auftrag, so Brecht. Eine maßlose Überforder­ung des Menschen, so Benjamin, der späte Romantiker.

Man sollte diese Ausstellun­g sehen, die über die Schachmeta­pher hinaus mit den Verweisen von Brecht und Benjamin aufeinande­r und übereinand­er hinaus, gekonnt spielt. Da ist Kafka, der Streitfall, zu dem Brechts Lese-Exemplar von »Der Prozess« aus dem Verlag Die Schmiede (1924) in einer Vitrine liegt, da ist Baudelaire, über den sie sich von ihren geistigen Positionen her niemals werden einigen können. Da ist so viel Dunkelheit, Absurdes und Böses – und all das nicht bloß als Durchgangs­stadion zu neuer Klarheit und Licht? Für den Antiromant­iker Brecht inakzeptab­el.

Zu sehen auch jene Notizen von Brecht zu Benjamins Freitod, die erst vor Kurzem aufgefunde­n wurden. Brecht erreichte die Nachricht erst zehn Monate nach dem Tod des Freundes. Günther Anders überbracht­e sie ihm bei seiner Ankunft in den USA im August 1941. Wie tief ihn der Verlust traf, davon zeugen diese Zeilen: »An der unübertret­baren Grenze/ Müde der Verfolgung, legte er sich nieder./ Nicht mehr aus dem Schlaf erwachte er.« Für Brecht endete mit Benjamins Tod ein Zeitalter.

»Die spielen ja immer Schach!« Ruth Berlau

»Benjamin und Brecht. Denken in Extremen«, bis zum 28. Januar in der Akademie der Künste, Hanseatenw­eg 10, Berlin-Tiergarten

 ?? Foto: © Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv ?? Bertolt Brecht und Walter Benjamin spielen Schach, 1934, Skovsbostr­and/Dänemark
Foto: © Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv Bertolt Brecht und Walter Benjamin spielen Schach, 1934, Skovsbostr­and/Dänemark

Newspapers in German

Newspapers from Germany