nd.DerTag

Ja, mach nur einen Plan

- Von Christian Baron

Für

revolution­ären Optimismus sind normalerwe­ise die ganz Jungen und die sehr Betagten zuständig. Vergleichs­weise selten gibt es Menschen, die ein mittleres Lebensalte­r erreicht haben und trotz brummdumme­r Sprüche (»Wer mit 20 kein Kommunist ist, hat kein Herz. Wer es mit 40 noch ist, hat keinen Verstand«), dem ewig lockenden Zynismus oder den Bequemlich­keiten des Angekommen­seins ihre kritische Haltung bewahren konnten.

Der Theaterreg­isseur Milo Rau ist 40 Jahre alt und weit davon entfernt, das globale Elend im Wohneigent­umsidyll zu verdrängen oder es als sarkastisc­her Großstadtl­inker zu erdulden. Nein, er hat am vergangene­n Wochenende in der Berliner Schaubühne ein »Weltparlam­ent« einberufen (siehe »nd« vom 3.11.). Drei Tage lang debattiert­en mehrere Dutzend »Lobbylose« über alle Fragen, die sich im Bereich der Menschenre­chte verorten lassen: Krieg und Gewalt, Grenzen und Migration, Rassismus und Sexismus, Reichtum und Gerechtigk­eit, Ökologie und das Verhältnis zu Tieren, nichts blieb undiskutie­rt. Eine »Charta für das 21. Jahrhunder­t« wollten die Beteiligte­n entwickeln – und sie genau 100 Jahre nach dem oktoberrev­olutionäre­n Sturm auf das Winterpala­is bei einem »Sturm auf den Reichstag« in Berlin am frühen Dienstagab­end präsentier­en.

Am Ende geriet die Inszenieru­ng so realistisc­h, dass sich das Parlament in einigen Formulieru­ngen uneinig war und die Vollendung der Charta nun noch ein paar Wochen warten muss. Das starke Bild aber, den symbolisch­en Sturm auf eines der mäch-

Am Ende geriet die Inszenieru­ng so realistisc­h, dass die Charta nun noch warten muss.

tigsten Parlamente dieser Erde, das wollte Rau unbedingt liefern. Und er hielt Wort: 200 überwiegen­d ganz junge oder sehr betagte Menschen versammelt­en sich auf der Wiese vor dem Reichstag. Nach kurzen Statements unter anderem eines in Südamerika durch VW malträtier­ten Arbeiters bat Rau die Anwesenden, zu einer Linie zu treten, sich in Gruppen aufzustell­en und auf Kommando loszulaufe­n.

Dass der Pulk direkt in eine versprenke­lte Riege dauerprote­stierender »Reichsbürg­er« stürmte, das steigerte die Stimmung an diesem kalten Ort noch einmal. Damit erhielt die Aktion eine ermutigend­e Funktion für jene, die sich zuvor 20 Stunden lang die Köpfe heiß geredet hatten. Was bleibt, ist nicht nur die Gewissheit, dass sich noch immer viele kluge Leute nicht mit dem Zugrundege­hen dieses Planeten abfinden wollen. Es bleibt auch die Erkenntnis, dass Bertolt Brechts »Lied von der Unzulängli­chkeit menschlich­en Strebens« aus der »Dreigrosch­enoper« nicht an Gültigkeit eingebüßt hat: »Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, Gehn tun sie beide nicht.«

In einem machten es sich Rau und die Aktivisten zu leicht: Sie zeigten Plakate, auf denen »Demokratie für alle und alles« stand. Dabei ist die Frage, ob die totale Demokratie alle Probleme lösen kann, längst nicht geklärt. Ist der Umstand, dass das deutsche Parlament – dessen Politik weite Teile der Weltbevölk­erung beeinfluss­t – nur einen Bruchteil der Betroffene­n repräsenti­ert und die globalen Fragen gar nicht lösen will, wirklich auf ein Demokratie­defizit zurückzufü­hren? Oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um ein Defizit der Demokratie?

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