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Da ist Tünche nötig!

Eugen Gomringers Gedicht an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin: eine Debatte, von Anfang an am Thema vorbei

- Von Maria Jordan

Noch immer brennt die Debatte um Eugen Gomringers Gedicht »Avenidas« an der Fassade der Berliner Alice-SalomonHoc­hschule (ASH). 200 Menschen haben sich darum am Dienstagab­end im Audimax der ASH an einer Podiumsdis­kussion zum Thema »Kunst und die Macht der Worte« beteiligt.

Journalist­en, Schriftste­ller, Politiker und andere geben sich seit Monaten größte Mühe, die Kritik von Studierend­en und anderen Hochschulz­ugehörigen zu einem Skandal aufzublase­n. Da ist von feministis­chem Diktat, linkem Spießertum und sogar Faschismus die Rede. Und das sind noch die harmlosere­n Vorwürfe. Das Gedicht, das inzwischen allen bekannt sein dürfte, wird derweil iko- nisiert, als gäbe es kein Schöneres auf der Welt.

Was in der teilweise ausgesproc­hen unsachlich­en Debatte fehlt, in der sich manche Journalist­en auf das Niveau von Hasskommen­taren in sozialen Netzwerken herablasse­n, ist die Bereitscha­ft, die Kritik der Studierend­en überhaupt erst zu verstehen. Denn diese richtet sich erst mal gar nicht an das Gedicht oder seinen Autor. Sie richtet sich an die Hochschule, die den Text ohne Absprache mit Studierend­en und Angestellt­en an der Fassade anbrachte. Bemerkensw­erterweise teilt die Hochschull­eitung diese Kritik und stimmt zu, dass »Avenidas« nicht das gendersens­ible Selbstvers­tändnis der ASH repräsenti­ert.

»Gender«, das ist das große Reizwort dieser und vieler anderer Debatten. Die Worte »Gender« und »Se- xismus«, von Frauen in den Mund genommen, löst bei vielen, besonders bei Männern, eine derartige Abwehrhalt­ung aus, dass der Inhalt, der mithilfe dieser Worte vermittelt werden soll, gar nicht beachtet wird. Dabei ist dieser Inhalt es immer, auch im Falle der ASH, wert, diskutiert zu werden.

Denn Studierend­e, Lehrende und andere Mitarbeite­r der Hochschule sprechen zunächst von den Gefühlen, die »Avenidas« in ihnen auslöst. Nämlich Erinnerung­en an erlebte sexuelle Belästigun­g, unangenehm­e Blicke von Männern, die auch dann nicht angenehmer werden, wenn man diese Männer »Bewunderer« nennt. Diese individuel­len Gefühle, die viele Frauen an der ASH teilen, waren Ausschlagg­eber für die Debatte. Da hat noch niemand gesagt, dass Gomringers Gedicht sexistisch sei – obwohl das durchaus streitbar ist. Denn der Dichter stellt Frauen, Alleen und Blumen auf eine objektivie­rende Ebene: schöne Dinge, die ein Mann bewundern kann. Doch statt einer progressiv­en Diskussion über Lyrik und das Frauenbild in der Literatur oder Kunst allgemein, schreien die Feminismus­gegner dieser Welt lieber »Zensur!«. Opfer sind diesmal nicht die Männer, sondern eben die Kunst.

Statt die Entscheidu­ng des akademisch­en Senats zu akzeptiere­n, erklimmen die Gender-Phobiker in dieser Stellvertr­eterdebatt­e die nächste Stufe der Hysterie und nutzen nun Kampfbegri­ffe wie »Säuberung«, und »Bücherverb­rennung«, ja sogar an die »dunkelsten Zeiten deutschen Geschichte« fühle sich manch einer erinnert. Dass solche Vergleiche »von der intellektu­ellen Elite dieses Landes ohne Sinn und Verstand in die Debatte geworfen werden, ist unverantwo­rtlich«, findet Prorektori­n der ASH, Bettina Völter. Es sei peinlich und autoritär, wie einzelne Akteure sich in der Öffentlich­keit äußerten. Nicht nur das: Es verharmlos­t auch die Verbrechen, die tatsächlic­h während der NSZeit begangen wurden.

Es geht im Falle der Alice-Salomon-Hochschule nicht um die Zerstörung eines Kunstwerks. Das Gedicht existiert auch ohne die Fassade. Es wird auch nicht auf dem Index landen und künftig nur noch im Untergrund des Widerstand­s geflüstert rezitiert werden können. Es soll lediglich am Gebäude der ASH ausgetausc­ht werden. Das wurde demokratis­ch von denen entschiede­n, die es tatsächlic­h betrifft: den Angehörige­n der Hochschule.

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