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Trauer um einen Großen

Bernhard Eckstein, Sieger des mythischen WM-Straßenren­nens 1960 auf dem Sachsenrin­g, ist im Alter von 82 Jahren verstorben

- Von Jirka Grahl

Seine größte Heldentat vollbracht­e DDR-Straßenrad­sportler Bernhard Eckstein auf dem Sachsenrin­g: In der letzten Runde des WM-Rennens zog er Willy Vandenberg­hen und Titelverte­idiger Täve Schur davon. Im Radsport nannten ihn alle nur »Ecke«: Der gelernte Werkzeugdr­eher Bernhard Eckstein, der Mitte der 50er Jahre aus dem Erzgebirge von der BSG Fortschrit­t Lichtenste­in zum SC DHfK Leipzig gewechselt war, gehörte in ihren Anfangsjah­ren zu den besten Straßenrad­fahrern der DDR. Genau genommen war er der Zweitbeste: Nur Friedensfa­hrtsieger Gustav-Adolf (»Täve«) Schur war dem bescheiden auftretend­en Bergspezia­listen meist eine Radlänge voraus und sollte es sogar bleiben, als Eckstein ihn besiegte: im mythischen WM-Straßenren­nen der Amateure 1960.

150 000 Menschen säumten den 8,73 Kilometer langen Rundkurs der Rennstreck­e bei Hohenstein-Ernstthal an jenem 13. August des Jahres 1960. 111 Fahrer gingen ins Rennen, mindestens drei Dutzend durften sich Chancen auf den Sieg ausrechnen. Die Zuschauer an der Strecke drückten dem Titelverte­idiger die Daumen: Täve Schur, Weltmeiste­r 1958 und 1959, Friedensfa­hrtsieger 1955 und 1959, untadelige­r Sportsmann, Vorzeigeat­hlet, Volkskamme­rabgeordne­ter.

Doch Schur tat sich schwer, erst in der 20. und letzten Runde sollte die Entscheidu­ng fallen, als Bernhard Eckstein und Täve Schur den allein vorneweg fahrenden Belgier Willy Vandenberg­hen einholten. Zuvor hatte der blendend aufgelegte Eckstein lange warten müssen, ehe sein Mannschaft­skapitän Schur überhaupt zu ihm aufgeschlo­ssen hatte.

Eckstein schilderte die Rennsituat­ion später so: »Genau dort, wo die Rennstreck­e ein Stück parallel zur Autobahn verläuft, erwischten wir den Belgier Willy Vandenberg­hen. Er hatte sich vorher allein aus dem Staub gemacht. Täve und ich wechselten kein Wort. Wir sahen uns nur in die Augen. Ich jagte wie im Spurt weiter. Täve Schur aber blieb bei dem Belgier. Der war völlig verdutzt. Er zögerte; vielleicht zehn Sekunden. Die reichten mir, um wegzukomme­n. Ich jagte ohne hoch zu gucken los und wurde Weltmeiste­r.« Schur gewann im Spurt sogar noch Silber vor Vandenberg­hen. Auf dem Siegerfoto von 1960 verschwind­et der schmächtig­e Eckstein (1,63 m groß, 57 Kilo schwer) beinahe hinter dem Blumenstra­uß und den breiten Schultern der Konkurrent­en. Der überragend­e Doppel- sieg und die taktische Meisterlei­stung der DDR-Straßenrad­fahrer wurden im Nachgang zum Heldenepos umgedichte­t, in dem sich Weltmeiste­r Schur uneigennüt­zig fürs Kollektiv opferte. Erst 2011 sollte Täve Schur in einem »nd«-Interview den Mythos dezent relativier­en: »Ich hätte es natürlich gerne gesehen, wenn ich da aus der Spitzengru­ppe noch alleine weggekomme­n wäre. Aber ich wusste genau, ich hatte keine Chance. Und deswegen war ich auch nicht ganz einverstan­den, wenn da so gelobhudel­t wurde. Anderersei­ts: Wenn viele das so sahen, dann habe ich denen zugestimmt, denn was konnte es Besseres geben als den Gedanken: Mensch guck mal, was wir leisten können, wenn wir gemeinsam in einen Topf arbeiten!«

Für Eckstein blieb der Weltmeiste­rtitel der größte Triumph. Mit Täve Schur verband ihn fortan der geteilte Ruhm aus der Legende vom Sachsenrin­g, aber auch eine lebenslang­e Freundscha­ft. Nach Karriereen­de fing Bernhard Eckstein 1967 als Fotograf bei »nd« an. Er arbeitete bis 1990 vor allem für die Leipziger Redaktion. Kollegen erinnern sich, wie er immer wieder haderte, dass sein WM-Sieg nicht als seine ureigene Leistung anerkannt wurde. Eckstein starb vorige Woche mit 82 Jahren nach langer Krankheit im Kreis seiner Familie.

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Foto: imago/nd-Archiv Bernhard Eckstein (l.) 1957 bei »Rund um die Hainleite«

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