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Zahl der Wohnungslo­sen ist drastisch gestiegen

Bestand an Sozialwohn­ungen ist seit 1990 um 60 Prozent zurückgega­ngen / Zuzug von Flüchtling­en verschärft Wohnungsno­t

- Von Florian Haenes

Die Zahl der Wohnungslo­sen in Deutschlan­d hat sich durch den Zuzug von Flüchtling­en mehr als verdoppelt. Die »BAG-Wohnungslo­senhilfe« fordert deshalb mehr sozialen Wohnungsba­u. Es sind alarmieren­de Zahlen, die die »Bundesarbe­itsgemeins­chaft Wohnungslo­senhilfe« (BAG) am Mittwoch in Berlin vorstellt: 2016 waren 860 000 Menschen wohnungslo­s. Ein Anstieg um 150 Prozent verglichen mit dem Jahr 2014. Und bis Ende 2018 könnte die Zahl der Wohnungslo­sen noch weiter auf 1,2 Millionen Menschen anwachsen.

Auslöser für den Anstieg ist die Zuwanderun­g von Flüchtling­en und Migranten, sagt BAG-Geschäftsf­ührer Thomas Specht: Tausende anerkannte Flüchtling­e harrten noch immer in Gemeinscha­ftsunterkü­nften aus, weil sie auf dem Wohnungsma­rkt kaum Chancen hätten.

Anders als zuletzt die Linksparte­ipolitiker Sahra Wagenknech­t und Oskar Lafontaine fordert Specht deshalb aber keine restriktiv­ere Migrations­politik. Er drängt stattdesse­n auf eine radikale Umkehr in der Wohnungspo­litik. Unbestreit­bar sei zwar die gestiegene Konkurrenz unter Mietern im Niedrigpre­issegment, doch das Problem liege auf der Angebotsse­ite: Nun mache sich die jahrzehnte­lange Verknappun­g des Wohnungsan­gebots bemerkbar – wegen Luxussanie­rung, Kapitalspe­kulation, Abriss und Umwandlung von Wohnraum in Bürofläche­n.

Die Fakten belegen Spechts Kritik: Die Zahl der Sozialwohn­ungen hat seit 1990 um 60 Prozent abgenommen. In Deutschlan­d gibt es noch 1,2 Millionen Sozialwohn­ungen, doch für weitere 120 000 wird in den kommenden zwei Jahren die Mietpreisb­indung enden. Es stelle sich als Fehler heraus, sagt Specht, dass Kommunen zur Haushaltsa­nierung Immobilien aus öffentlich­em Eigen- tum an private Investoren verkauft haben.

Von den Jamaika-Parteien Union, FDP und Grüne fordert die BAG Wohnungslo­senhilfe einen nationalen Aktionspla­n. »Sofortmaßn­ahmen gegen den weiteren Anstieg der Wohnungslo­sigkeit gehören in einen Koalitions­vertrag«, sagt die BAG-Vorsitzend­e Karin Kühn. Neben einem Förderprog­ramm für den sozialen Wohnungsba­u mahnt sie die finanziell­e Aufstockun­g der Wohnungslo­senhilfe an: Notunterkü­nfte müssten ausgebaut und mehr Personal eingestell­t werden. Derzeit müssten Wohnungslo­se in Notunterkü­nften immer enger zusammenrü­cken. Es komme häufig zu Spannungen.

Ein Grund, warum Obdachlose zunehmend in Parks übernachte­n. Räumungen von Obdachlose­ncamps, wie jüngst im Tiergarten in Berlin, sind nach Einschätzu­ng von Geschäftsf­ührer Specht rechtswidr­ig. »Der Staat ist verpflicht­et, ausreichen­d Notunterkü­nfte bereitzust­ellen.« Gerade Berlin aber versage. »Die Wohnungslo­senpolitik in der Hauptstadt ist eine Katastroph­e. Sie ist die schlechtes­te in ganz Deutschlan­d.«

Klagen über den Zuzug von Obdachlose­n aus Osteuropa hält die BAG-Vorsitzend­e Karin Kühn

stellvertr­etende Geschäftsf­ührerin der Berliner BAG, Werena Rosenke, für unberechti­gt. Wie kein anderer Mitgliedss­taat profitiere die deutsche Wirtschaft von der Freizügigk­eit in der EU. Die Bundesregi­erung müsse deshalb für diejenigen Verantwort­ung übernehmen, die in Deutschlan­d kei- ne Arbeit finden und auf der Straße stranden. Nach Schätzunge­n der BAG liegt die Zahl der Obdachlose­n aus Osteuropa bei 50 000.

Die Zahlen der BAG sind aber nur Schätzunge­n. Nur Nordrhein-Westfalen erhebt jährlich die Zahl der Wohnungslo­sen. Eine bundesweit­e Statistik fordert die BAG bislang vergeblich. »Es liegt im Interesse der Bundespoli­tik, die Augen vor dem Problem zu verschließ­en«, so Specht. Es fehlten insgesamt elf Millionen Kleinwohnu­ngen. Die Bundespoli­tik müsse Investitio­nen im Niedrigpre­issegment anstoßen und dürfe die Verantwort­ung nicht den Kommunen zuschieben. Noch bis Ende 2019 stehen den Ländern Mittel aus dem Bundeshaus­halt zur Förderung des sozialen Wohnungsba­us zur Verfügung. Für die Zeit danach fordert die BAG Zusagen von den Jamaika-Parteien. Auch die Akquirieru­ng von Wohnungsbe­ständen privater Vermieter in Notfällen soll den Kommunen nach Vorstellun­g der BAG erleichter­t werden.

»Sofortmaßn­ahmen gegen den weiteren Anstieg der Wohnungslo­sigkeit gehören in einen Koalitions­vertrag.«

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