Herz der Finsternis
Im Kino: »Das Kongo-Tribunal« von Milo Rau ist ein erschütternder Dokumentarfilm über eine große Tragödie
In einem fiktiven Gerichtsprozess ergründete Milo Rau die Rohstoffkonflikte unserer Zeit. Der Film »Das Kongo-Tribunal« dokumentiert das waghalsige Projekt.
Die Handkamera liefert nichts als wackelige Einstellungen. Unruhige Bilder von einem ruhigen Ort, so sieht es aus. Da ist nur dieser eine Mann, der hastig von dannen schreitet, kaum Hörbares mit hörbarer Wut daherredet, immer wieder zurückblickt und sich vergewissert, ob die Begleitung auch wirklich noch dabei ist. Er streckt den rechten Arm aus und zeigt nach vorne. Auf der Straße klebt ein riesiger Fleck. Dann fasst sich der Mann an die Nase. Mit französischem Akzent radebrecht er auf Englisch: »Man riecht es schon.« Ja, man riecht es schon, obwohl das alles nur ein Film ist. Denn man ahnt, dass da gleich Schreckliches zu sehen sein wird.
»Afrika«, das sagte der antikolonialistische Vordenker Frantz Fanon vor vielen Jahren, »hat die Form eines Revolvers, dessen Abzug im Kongo liegt.« Und wer diesen Abzug kontrolliere, der habe den gesamten Kontinent in der Hand. Seit die europäischen Machthaber im 19. Jahrhundert der Hybris verfielen, die weit entfernt unter der Erde liegenden Bodenschätze seien ihr gottgegebenes Eigentum, führt die Ausbeutung der Ressourcen in der heutigen Demokratischen Republik Kongo zu unvorstellbarer Gewalt. Dass der heiklen Stoffen zugeneigte Schweizer Theatermensch Milo Rau sich dieser Tragödie angenommen hat, das überrascht nicht.
Sein Ansatz, in einem inszenierten und damit rechtlich natürlich nicht gültigen Prozess zumindest einige Verbrechen aufzuarbeiten, ist in diesem Ausmaß einmalig. Im Kongo standen im Mai 2015 Täter und Opfer von Enteignungen, Vertreibungen und Massakern auf der Bühne, in Berlin wurde kurz darauf die Mitschuld von Staaten und Organisationen wie der Weltbank oder der Vereinten Nationen untersucht. In dem Film »Das Kongo-Tribunal«, der jetzt im Kino anläuft, dokumentiert Rau die Recherche und die Umsetzung seines großen Dokumentartheaterprojekts.
Wobei dieses Konzept über bisher etablierte Formen des Theaters weit hinausgeht. Milo Rau ließ den ersten Teil seines Tribunals in Bukavu (Provinz Süd-Kivu) am Beispiel dreier konkreter Fälle vor den höchsten Regierungs- und Militärvertretern abhalten. Es sollte ein Anfang sein, damit in 20 oder 50 oder vielleicht auch erst in 100 Jahren ein »richtiges« Gericht den allein in den vergangenen beiden Dezennien zu beklagenden sechs Millionen Toten einen Teil ihrer Würde zurückgibt.
Um das zu erreichen, setzt Rau in seinem Film auf drastische Bilder. Eher zufällig ist er mit seinen Leuten das erste Kamerateam gewesen, das im Sommer 2014 das Dorf Mutarule erreicht hat, nachdem dort 35 Kinder und Frauen durch Milizen mit Kalaschnikows und Macheten abgeschlachtet worden waren. Ein aufgebrachter Mann hat die leicht als auswärtig erkennbaren Leute durch den Ort geführt, sie zu jener Straße gebracht, auf der die Einwohner die zerstückelten und teilweise verbrannten Leichen aus Protest nebeneinander aufgereiht hatten. Der jüngste der toten Körper gehörte einem zwei Monate alten Baby, und der Kameramann hält gnadenlos drauf, als die Decke weggezogen und dieser leblose kleine Mensch sichtbar wird.
Erst Stunden später ist jemand vom Innenministerium eingetroffen. Auf die Frage, warum das in Sichtweite stationierte Militär nicht eingegriffen hat, gibt es keine Antwort. Warum die Regierung so lange gebraucht hat, das erklärt der Politiker mit einem beschädigten Licht am Auto. In einem Beitrag zu dem kürzlich erschienenen Buch »Lob des Realismus – Die Debatte« beschreibt Milo Rau, worin angesichts solch organisierter Verantwortungslosigkeit die Gefahr seiner Arbeit liegt: »Von der Verrücktheit und vom realen Risiko her betrachtet, war das › Kongo-Tribunal‹ so, als würde man im Nordirak die Führer des ›Islamischen Staats‹ zwingen, über Sinn und Unsinn der Scharia zu debattieren: jetzt, nicht erst in zehn oder 15 Jahren, wenn sie besiegt sind.«
Im Publikum hat Rau den Gouverneur von Süd-Kivu platziert. Auf dem Podium sagt unter anderem ein durch einen Minenräumanzug und einen Schleier unkenntlich gemachtes Mitglied einer brutalen Miliz aus. Und in der Jury sitzt ein Rechtsanwalt, der die Interessen eines Minenkonzerns vertritt. Dadurch stellt der Film in den Tribunalszenen ebenso wie in den Dokumentarsequenzen heraus, dass der Reichtum des Landes die Bevölkerung arm gemacht hat. Heute ist vor allem das für die Handyproduktion wichtige Coltan hart umkämpft.
Worin die historischen Ursachen des Wahnsinns liegen, darüber klärt der Film kaum auf. Das ist ein Manko, denn nur so lassen sich die Gewaltexzesse komplett begreifen. 1876 besetzte der belgische König Leopold II. den Kongo und errichtete eines der grausamsten Kolonialregimes, um Elfenbein und das für den damals erfundenen aufblasbaren Reifen notwendige Gummi zu vereinnahmen. Wer sich weigerte, Land abzugeben oder für wenig Lohn zu arbeiten, musste mit Verstümmelungen oder einer Hinrichtung rechnen.
Ab 1908 bildeten der belgische Staat, die Wirtschaft und die katholische Kirche eine koloniale Trinität, bevor 1960 unter Patrice Lumumba das Land unabhängig wurde. Der Widerstand gegen die Kolonialmacht führte zur Ermordung des demokratisch gewählten Premierministers. Von nun an gelangten nur noch »kooperationsbereite« Diktatoren an die Macht. Immer wieder brechen seither Stellvertreterkonflikte aus, weil die Akteure des globalen Kapitalismus ein Interesse an Gewaltexzessen, Chaos und Staatszerfall im Kongo haben, um ihre ökonomischen Interessen mög- lichst frei von demokratischen Hindernissen durchzusetzen.
Zu welchen juristisch nicht aufgearbeiteten Verbrechen das allein in den vergangenen beiden Jahrzehnten geführt hat, das offenbaren die Szenen des zweiten »Kongo-Tribunals«, das in den Berliner Sophiensälen stattfand. Europäische und nordamerikanische Handelsregulierungen übten einen unmittelbar ne- gativen Einfluss auf die Bevölkerung im Kongo aus. Die im Land eingesetzte Mission der UNO, so das Urteil der aus internationalen Experten zusammengesetzten Jury, werde ihrem Auftrag zum Schutz der Bevölkerung nicht einmal ansatzweise gerecht. Und die Unternehmen können demnach schalten und walten, wie sie wollen, weil sie nach geltendem Recht der korrupten Regierung des Kongo legal handeln. Sie nutzen Gesetze, deren Erlass durch die Weltbank ausdrücklich begrüßt wurde.
Das sind Zusammenhänge, die derzeit nur ein Theater zutage fördern kann, das sich dem Realismus verpflichtet fühlt. Entgegen der Sichtweise vieler Verächter dieses Begriffs bedeutet die realistische Schlagrichtung der Bühnenkunst nicht die Verdrängung der Fantasie. Vielmehr ermöglicht sie deren authentische Überhöhung, wie es ein für Milo Rau als Leitzitat fungierender Aphorismus des Filmemachers Jean-Luc Godard ausdrückt: »Realismus meint nicht, dass etwas Reales dargestellt wird, sondern dass die Darstellung selbst real ist.«
Häufig hat Milo Rau schon in genau diesem Sinne reale Darstellungen erzeugt. Das begann 2011/12 mit »Hate Radio«, als er in einem Nachahmungsstück ein Rundfunkstudio aufbauen und Formate nachspielen ließ, mit denen der Sender RTLM aus Ruanda die Mordlust anfachte gegen Tutsi und gemäßigte Hutu, die 1994 einem 800 000 Menschenleben fordernden Völkermord zum Opfer fielen. 2012 las die deutsch-türkische Schauspielerin Sascha Ö. Soydan auf der Bühne die Verteidigungsrede des Massenmörders Anders B. Breivik, deren wesentlicher Inhalt unter donnerndem Applaus auch in bayerischen Bierzelten zum Vortrag hätte kommen können. Breivik erschoss auf der norwegischen Insel Utøya 2011 insgesamt 69 junge Menschen, weil ihre linke Haltung nicht in sein rechtes Weltbild passte.
Im Jahr 2013 nutzte Milo Rau erstmals ein Tribunal, um Fakten ins Theater zu holen: »Die Moskauer Prozesse« verhandelten Repressionen des russischen Staates gegen politisch unliebsame Künstler. Im Jahr darauf klagten die »Zürcher Prozesse« die Schweizer Zeitschrift »Weltwoche« an und fragten, wie viel Pressefreiheit eine demokratische Gesellschaft einem offen gegen Minderheiten hetzenden Blatt aus dem rechtsnationalen Spektrum zubilligen darf.
Dass die Person Milo Rau in dieser Reihe jedes Mal eine starke Rolle gespielt hat, das bot manchem schon öfter Anlass zu Kritik. Im Falle des »Kongo-Tribunals«, das in vielerlei Hinsicht einen Höhepunkt markiert, sind diese Stimmen besonders laut. Eine Kritikerin der Onlineplattform »nachtkritik.de« warf die Frage auf, ob sich hier die neokolonialistische Selbstherrlichkeit des westlichen Regisseurs zeige. Zumal Rau sich nicht mit den beiden Bühnenprozessen zufrieden gebe und seine Arbeit auch auf die Leinwand bringe.
Wer sich aber dieser Lage aussetzt – in Mutarule hätte die Dorfjugend im Schock des erlebten Massakers beinahe die unbekannten Weißen umgebracht –, in dem muss das ethische Verantwortungsgefühl raumgreifender sein als das nach Ruhm und Ehre strebende Ego. Ohne ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein, über das Rau zweifellos verfügt, lässt sich wiederum kein Unrechtsbewusstsein in solch produktive Bahnen lenken.
»Von der Verrücktheit her betrachtet war das ›Kongo-Tribunal‹ so, als würde man im Nordirak die Führer des ›Islamischen Staats‹ zwingen, über Sinn und Unsinn der Scharia zu debattieren.« Milo Rau »Der Teufel lässt immer eine Lücke, in die der Künstler hineinkriechen kann. Man muss sie nur finden.« Milo Rau