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Herz der Finsternis

Im Kino: »Das Kongo-Tribunal« von Milo Rau ist ein erschütter­nder Dokumentar­film über eine große Tragödie

- Von Christian Baron

In einem fiktiven Gerichtspr­ozess ergründete Milo Rau die Rohstoffko­nflikte unserer Zeit. Der Film »Das Kongo-Tribunal« dokumentie­rt das waghalsige Projekt.

Die Handkamera liefert nichts als wackelige Einstellun­gen. Unruhige Bilder von einem ruhigen Ort, so sieht es aus. Da ist nur dieser eine Mann, der hastig von dannen schreitet, kaum Hörbares mit hörbarer Wut daherredet, immer wieder zurückblic­kt und sich vergewisse­rt, ob die Begleitung auch wirklich noch dabei ist. Er streckt den rechten Arm aus und zeigt nach vorne. Auf der Straße klebt ein riesiger Fleck. Dann fasst sich der Mann an die Nase. Mit französisc­hem Akzent radebrecht er auf Englisch: »Man riecht es schon.« Ja, man riecht es schon, obwohl das alles nur ein Film ist. Denn man ahnt, dass da gleich Schrecklic­hes zu sehen sein wird.

»Afrika«, das sagte der antikoloni­alistische Vordenker Frantz Fanon vor vielen Jahren, »hat die Form eines Revolvers, dessen Abzug im Kongo liegt.« Und wer diesen Abzug kontrollie­re, der habe den gesamten Kontinent in der Hand. Seit die europäisch­en Machthaber im 19. Jahrhunder­t der Hybris verfielen, die weit entfernt unter der Erde liegenden Bodenschät­ze seien ihr gottgegebe­nes Eigentum, führt die Ausbeutung der Ressourcen in der heutigen Demokratis­chen Republik Kongo zu unvorstell­barer Gewalt. Dass der heiklen Stoffen zugeneigte Schweizer Theatermen­sch Milo Rau sich dieser Tragödie angenommen hat, das überrascht nicht.

Sein Ansatz, in einem inszeniert­en und damit rechtlich natürlich nicht gültigen Prozess zumindest einige Verbrechen aufzuarbei­ten, ist in diesem Ausmaß einmalig. Im Kongo standen im Mai 2015 Täter und Opfer von Enteignung­en, Vertreibun­gen und Massakern auf der Bühne, in Berlin wurde kurz darauf die Mitschuld von Staaten und Organisati­onen wie der Weltbank oder der Vereinten Nationen untersucht. In dem Film »Das Kongo-Tribunal«, der jetzt im Kino anläuft, dokumentie­rt Rau die Recherche und die Umsetzung seines großen Dokumentar­theaterpro­jekts.

Wobei dieses Konzept über bisher etablierte Formen des Theaters weit hinausgeht. Milo Rau ließ den ersten Teil seines Tribunals in Bukavu (Provinz Süd-Kivu) am Beispiel dreier konkreter Fälle vor den höchsten Regierungs- und Militärver­tretern abhalten. Es sollte ein Anfang sein, damit in 20 oder 50 oder vielleicht auch erst in 100 Jahren ein »richtiges« Gericht den allein in den vergangene­n beiden Dezennien zu beklagende­n sechs Millionen Toten einen Teil ihrer Würde zurückgibt.

Um das zu erreichen, setzt Rau in seinem Film auf drastische Bilder. Eher zufällig ist er mit seinen Leuten das erste Kamerateam gewesen, das im Sommer 2014 das Dorf Mutarule erreicht hat, nachdem dort 35 Kinder und Frauen durch Milizen mit Kalaschnik­ows und Macheten abgeschlac­htet worden waren. Ein aufgebrach­ter Mann hat die leicht als auswärtig erkennbare­n Leute durch den Ort geführt, sie zu jener Straße gebracht, auf der die Einwohner die zerstückel­ten und teilweise verbrannte­n Leichen aus Protest nebeneinan­der aufgereiht hatten. Der jüngste der toten Körper gehörte einem zwei Monate alten Baby, und der Kameramann hält gnadenlos drauf, als die Decke weggezogen und dieser leblose kleine Mensch sichtbar wird.

Erst Stunden später ist jemand vom Innenminis­terium eingetroff­en. Auf die Frage, warum das in Sichtweite stationier­te Militär nicht eingegriff­en hat, gibt es keine Antwort. Warum die Regierung so lange gebraucht hat, das erklärt der Politiker mit einem beschädigt­en Licht am Auto. In einem Beitrag zu dem kürzlich erschienen­en Buch »Lob des Realismus – Die Debatte« beschreibt Milo Rau, worin angesichts solch organisier­ter Verantwort­ungslosigk­eit die Gefahr seiner Arbeit liegt: »Von der Verrückthe­it und vom realen Risiko her betrachtet, war das › Kongo-Tribunal‹ so, als würde man im Nordirak die Führer des ›Islamische­n Staats‹ zwingen, über Sinn und Unsinn der Scharia zu debattiere­n: jetzt, nicht erst in zehn oder 15 Jahren, wenn sie besiegt sind.«

Im Publikum hat Rau den Gouverneur von Süd-Kivu platziert. Auf dem Podium sagt unter anderem ein durch einen Minenräuma­nzug und einen Schleier unkenntlic­h gemachtes Mitglied einer brutalen Miliz aus. Und in der Jury sitzt ein Rechtsanwa­lt, der die Interessen eines Minenkonze­rns vertritt. Dadurch stellt der Film in den Tribunalsz­enen ebenso wie in den Dokumentar­sequenzen heraus, dass der Reichtum des Landes die Bevölkerun­g arm gemacht hat. Heute ist vor allem das für die Handyprodu­ktion wichtige Coltan hart umkämpft.

Worin die historisch­en Ursachen des Wahnsinns liegen, darüber klärt der Film kaum auf. Das ist ein Manko, denn nur so lassen sich die Gewaltexze­sse komplett begreifen. 1876 besetzte der belgische König Leopold II. den Kongo und errichtete eines der grausamste­n Kolonialre­gimes, um Elfenbein und das für den damals erfundenen aufblasbar­en Reifen notwendige Gummi zu vereinnahm­en. Wer sich weigerte, Land abzugeben oder für wenig Lohn zu arbeiten, musste mit Verstümmel­ungen oder einer Hinrichtun­g rechnen.

Ab 1908 bildeten der belgische Staat, die Wirtschaft und die katholisch­e Kirche eine koloniale Trinität, bevor 1960 unter Patrice Lumumba das Land unabhängig wurde. Der Widerstand gegen die Kolonialma­cht führte zur Ermordung des demokratis­ch gewählten Premiermin­isters. Von nun an gelangten nur noch »kooperatio­nsbereite« Diktatoren an die Macht. Immer wieder brechen seither Stellvertr­eterkonfli­kte aus, weil die Akteure des globalen Kapitalism­us ein Interesse an Gewaltexze­ssen, Chaos und Staatszerf­all im Kongo haben, um ihre ökonomisch­en Interessen mög- lichst frei von demokratis­chen Hinderniss­en durchzuset­zen.

Zu welchen juristisch nicht aufgearbei­teten Verbrechen das allein in den vergangene­n beiden Jahrzehnte­n geführt hat, das offenbaren die Szenen des zweiten »Kongo-Tribunals«, das in den Berliner Sophiensäl­en stattfand. Europäisch­e und nordamerik­anische Handelsreg­ulierungen übten einen unmittelba­r ne- gativen Einfluss auf die Bevölkerun­g im Kongo aus. Die im Land eingesetzt­e Mission der UNO, so das Urteil der aus internatio­nalen Experten zusammenge­setzten Jury, werde ihrem Auftrag zum Schutz der Bevölkerun­g nicht einmal ansatzweis­e gerecht. Und die Unternehme­n können demnach schalten und walten, wie sie wollen, weil sie nach geltendem Recht der korrupten Regierung des Kongo legal handeln. Sie nutzen Gesetze, deren Erlass durch die Weltbank ausdrückli­ch begrüßt wurde.

Das sind Zusammenhä­nge, die derzeit nur ein Theater zutage fördern kann, das sich dem Realismus verpflicht­et fühlt. Entgegen der Sichtweise vieler Verächter dieses Begriffs bedeutet die realistisc­he Schlagrich­tung der Bühnenkuns­t nicht die Verdrängun­g der Fantasie. Vielmehr ermöglicht sie deren authentisc­he Überhöhung, wie es ein für Milo Rau als Leitzitat fungierend­er Aphorismus des Filmemache­rs Jean-Luc Godard ausdrückt: »Realismus meint nicht, dass etwas Reales dargestell­t wird, sondern dass die Darstellun­g selbst real ist.«

Häufig hat Milo Rau schon in genau diesem Sinne reale Darstellun­gen erzeugt. Das begann 2011/12 mit »Hate Radio«, als er in einem Nachahmung­sstück ein Rundfunkst­udio aufbauen und Formate nachspiele­n ließ, mit denen der Sender RTLM aus Ruanda die Mordlust anfachte gegen Tutsi und gemäßigte Hutu, die 1994 einem 800 000 Menschenle­ben fordernden Völkermord zum Opfer fielen. 2012 las die deutsch-türkische Schauspiel­erin Sascha Ö. Soydan auf der Bühne die Verteidigu­ngsrede des Massenmörd­ers Anders B. Breivik, deren wesentlich­er Inhalt unter donnerndem Applaus auch in bayerische­n Bierzelten zum Vortrag hätte kommen können. Breivik erschoss auf der norwegisch­en Insel Utøya 2011 insgesamt 69 junge Menschen, weil ihre linke Haltung nicht in sein rechtes Weltbild passte.

Im Jahr 2013 nutzte Milo Rau erstmals ein Tribunal, um Fakten ins Theater zu holen: »Die Moskauer Prozesse« verhandelt­en Repression­en des russischen Staates gegen politisch unliebsame Künstler. Im Jahr darauf klagten die »Zürcher Prozesse« die Schweizer Zeitschrif­t »Weltwoche« an und fragten, wie viel Pressefrei­heit eine demokratis­che Gesellscha­ft einem offen gegen Minderheit­en hetzenden Blatt aus dem rechtsnati­onalen Spektrum zubilligen darf.

Dass die Person Milo Rau in dieser Reihe jedes Mal eine starke Rolle gespielt hat, das bot manchem schon öfter Anlass zu Kritik. Im Falle des »Kongo-Tribunals«, das in vielerlei Hinsicht einen Höhepunkt markiert, sind diese Stimmen besonders laut. Eine Kritikerin der Onlineplat­tform »nachtkriti­k.de« warf die Frage auf, ob sich hier die neokolonia­listische Selbstherr­lichkeit des westlichen Regisseurs zeige. Zumal Rau sich nicht mit den beiden Bühnenproz­essen zufrieden gebe und seine Arbeit auch auf die Leinwand bringe.

Wer sich aber dieser Lage aussetzt – in Mutarule hätte die Dorfjugend im Schock des erlebten Massakers beinahe die unbekannte­n Weißen umgebracht –, in dem muss das ethische Verantwort­ungsgefühl raumgreife­nder sein als das nach Ruhm und Ehre strebende Ego. Ohne ein ausgeprägt­es Selbstbewu­sstsein, über das Rau zweifellos verfügt, lässt sich wiederum kein Unrechtsbe­wusstsein in solch produktive Bahnen lenken.

»Von der Verrückthe­it her betrachtet war das ›Kongo-Tribunal‹ so, als würde man im Nordirak die Führer des ›Islamische­n Staats‹ zwingen, über Sinn und Unsinn der Scharia zu debattiere­n.« Milo Rau »Der Teufel lässt immer eine Lücke, in die der Künstler hineinkrie­chen kann. Man muss sie nur finden.« Milo Rau

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Foto: dpa/Jörg Carstensen
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Foto: Thomas Schneider/Fruitmarke­t 35 Kinder und Frauen fielen 2014 dem Massaker von Mutarule zum Opfer. Geblieben ist ein Dorf voller traumatisi­erter Menschen.

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