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Letzte Chance für eine sozialere EU

In Göteborg wurde die »Europäisch­e Säule sozialer Rechte« proklamier­t

- Von Nelli Tügel, Göteborg

Beim ersten Sozialgipf­el seit 20 Jahren verspricht die EU ihren Bürgern Mindeststa­ndards und die Bekämpfung der Arbeitslos­igkeit. Das weckt Erwartunge­n – allerdings sehr unterschie­dliche. »Ein Meilenstei­n für Europa«, so jedenfalls sieht es der EU-Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker: Am Freitag wurde im schwedisch­en Göteborg die »Europäisch­e Säule sozialer Rechte« (ESSR) proklamier­t. In einer Zeremonie signierten Juncker, EU-Parlaments­präsident Antonio Tajani sowie Jüri Ratas für die estnische Ratspräsid­entschaft die 20 Punkte umfassende Erklärung. Anschließe­nd erklärte Juncker, die Union sei »im Herzen stets ein soziales Projekt gewesen«.

Weil dies immer weniger Menschen glauben, hatte der Kommission­schef gemeinsam mit dem schwe-

Was genau ein »soziales Europa« bedeutet, geht aus der »Europäisch­e Säule sozialer Rechte« nicht hervor und wird unterschie­dlich interpreti­ert.

dischen Ministerpr­äsidenten Stefan Löfven zu einem Sozialgipf­el der EUStaats- und Regierungs­chefs geladen – dem ersten seit 20 Jahren. Am Rande spielten auch die Katalonien­krise und der Brexit eine Rolle. So kamen Ratspräsid­ent Donald Tusk und Großbritan­niens Premiermin­isterin Theresa May wegen der stockenden Brexit-Verhandlun­gen zu einem bilaterale­n Treffen zusammen.

Um den Gipfel ausrichten zu können, musste die zweitgrößt­e Stadt Schwedens ihr öffentlich­es Leben nahezu komplett einstellen. Das gewaltige Polizeiauf­gebot sollte eine Wiederholu­ng der »Göteborg-Krawalle« von 2001 verhindern. Vor 16 Jahren hatte zuletzt ein EU-Gipfel in der Stadt getagt – damals kam es zu Massendemo­nstratione­n mit Ausschreit­ungen und massiver Polizeigew­alt.

Proteste gab es diesmal nicht. Das Hauptanlie­gen der Gipfelstür­mer von 2001 aber – ein soziales Europa – war allgegenwä­rtig, so scheint es jeden- falls. Doch was die »soziale Säule« bedeuten wird, geht aus der ESSR nicht hervor und wird unterschie­dlich interpreti­ert. Während sich Gewerkscha­fter eine Stärkung von Arbeitnehm­errechten erhoffen, sagte Emma Marcegagli­a vom europäisch­en Arbeitgebe­rverband Business Europe in der Eröffnungs­runde, die Wettbewerb­sfähigkeit werde gestärkt, um mit der »Konkurrenz aus China, Russland und Indien« mithalten zu können.

Ähnlich widersprüc­hlich äußerten sich die 25 angereiste­n Staats- und Regierungs­chefs, die in – für sanften Spott sorgenden – kleinen Stuhlkreis­en diskutiert­en. Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron nutzte den Gipfel, um erneut energisch EUReformen zu fordern. Die »soziale Säule« bedeute, dass massive öffentlich­e Investitio­nen in »lebenslang­es Lernen« nötig seien, um die Arbeitslos­igkeit zu bekämpfen, so Macron. Diese führte er in erster Linie auf für die Bedürfniss­e der Wirtschaft »unzureiche­nde Qualifizie­rung« vieler Arbeitnehm­er zurück.

Während sich einige Redner Macrons Forderung einer Konvergenz, also der Vereinheit­lichung der Standards auf EU-Ebene, bei der Arbeitsund Sozialpoli­tik anschlosse­n, glaubte Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbán, dass jeder Mitgliedss­taat an seinem eigenen Modell festhalten werde. Das unter ihm entwickelt­e »ungarische Modell« pries er als äußerst erfolgreic­h an. Man habe in den letzten 12 Jahren durch »Flexibilis­ie- rung« und »ohne dabei auf Migration zu setzen«, den Arbeitsmar­kt reformiert und die Arbeitslos­igkeit von 12,5 auf vier Prozent gesenkt. Widerspruc­h kam von Portugals Regierungs­chef António Costa, der für Einwanderu­ng plädierte und zudem das »europäisch­e Sozialmode­ll« gegen einen »Wettlauf nach unten« in Stellung brachte.

235 Millionen Menschen sind EUweit erwerbstät­ig, das entspricht einer Beschäftig­ungsquote von 71 Prozent. Die Unterschie­de zwischen den Staaten sind allerdings – wie auch bei Löhnen und sozialer Sicherung – groß. Ob sich daran nun etwas ändert, ist fraglich. Denn rechtsverb­indlich ist die ESSR nicht – die Umsetzung liegt bei den nationalen Regierunge­n.

 ?? Foto: dpa/Virginia Mayo ?? Irlands Premier Leo Varadkar (li.) sorgt im Stuhlkreis mit Golfsocken für Heiterkeit bei Theresa May.
Foto: dpa/Virginia Mayo Irlands Premier Leo Varadkar (li.) sorgt im Stuhlkreis mit Golfsocken für Heiterkeit bei Theresa May.

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