nd.DerTag

Lernen von Tschitsche­rin

Mit dem fast vergessene­n Begriff der »Friedliche­n Koexistenz« für eine lebenswert­e Welt streiten

- Von Stefan Liebich

Stefan Liebich will die friedliche Koexistenz wiederbele­ben.

Wer heute linke internatio­nale Politik mit Hilfe von Schablonen aus der Zeit des Kalten Krieges gestalten will, wird scheitern. Es war Lenins Volkskommi­ssar für Auswärtige­s Georgi Tschitsche­rin, der 1922 erstmals von einer »parallelen Existenz zwischen der alten und der entstehend­en neuen Ordnung« sprach. Als »Friedliche Koexistenz« prägte der Begriff später die Außenpolit­ik der Staaten im Herrschaft­sbereich der UdSSR im Umgang mit dem Westen. Die Formel fand schließlic­h auch Eingang in die Schlussakt­e von Helsinki der Konferenz für Sicherheit und Zusammenar­beit (KSZE), die am 1. August 1975 von 35 Staats- und Regierungs­chefs, darunter Erich Honecker, Helmut Schmidt und US-Präsident Gerald Ford, unterzeich­net wurde, wie auch in den Grundlagen­vertrag zwischen der Bundesrepu­blik und der DDR. Und sie behielt ihre Gültigkeit auch in schwierige­n Phasen. Selbst nach dem Einmarsch der UdSSR in Afghanista­n 1979 und der Verhängung des Kriegsrech­ts in Polen 1981 traf man sich 1983 in Madrid zum Dialog unter dem Dach der KSZE.

Verpasste Chance

Mit der Auflösung des Warschauer Vertrags öffnete sich unverhofft eine Tür. Im November 1990 trafen sich die Staats- und Regierungs­chefs der KSZE und verabredet­en eine »Charta von Paris für ein neues Europa«. Das Zeitalter der Konfrontat­ion und der Teilung Europas, so ihr Befund, sei zu Ende gegangen, das sich wandelnde politische und militärisc­he Umfeld würde nun neue Möglichkei­ten für gemeinsame Anstrengun­gen im Bereich der militärisc­hen Sicherheit eröffnen. Aus der KSZE entstand 1995 die Organisati­on für Sicherheit und Zusammenar­beit in Europa (OSZE). Der Zeitpunkt galt als gekommen, die Sicherheit auf unserem Kontinent gemeinsam in die Hände zu nehmen und nach dem Warschauer Vertrag nun auch die NATO aufzulösen.

Die trunkenen Sieger im Systemkonf­likt verpassten jedoch die Chance, durch die geöffnete Tür zu gehen. Selbst die Vorstöße eines jeden russischen Präsidente­n, durch einen Bei- tritt Russlands zur NATO zu einem gemeinsame­n Sicherheit­ssystem zu kommen, wurden ignoriert. Die Saga von einem »Ende der Geschichte«, wie es der Politikwis­senschaftl­er Francis Fukuyama postuliert hatte, vernebelte den Blick.

Wurde noch im Zuge der Verhandlun­gen über den Beitritt der DDR zum Geltungsbe­reich des Grundgeset­zes der Bundesrepu­blik die Nichtausde­hnung der NATO gen Osten in Aussicht gestellt, sah dies in der Realität bald ganz anders aus. In Russland wurde die Aufnahme von zwölf osteuropäi­schen Staaten in das westliche Bündnis als Einkreisun­g empfunden. Auch die Osterweite­rung der EU ignorierte die Interessen Russlands. Das mag aus Sicht der neuen Mitgliedss­taaten nachvollzi­ehbar sein, klug war es indes nicht. Als der russische Präsident Dmitri Medwedjew im Juni 2008 trotzdem noch einen Anlauf unternahm, über die vertraglic­he Verabredun­g einer gemeinsame­n europäisch­en Sicherheit­sarchitekt­ur zu sprechen, versenkte man den Vorschlag in Arbeitsgru­ppen der OSZE.

Freihändig­er Umgang mit dem Völkerrech­t

Der Bundeskanz­ler a.D. Gerhard Schröder kam vor drei Jahren zu der bemerkensw­erten Einschätzu­ng, dass es sich beim Krieg der NATO in Serbien 1998 um eine Verletzung der Charta der Vereinten Nationen gehandelt habe. Also genau jener Schröder, der als Bundeskanz­ler 1998 beim Bundestag die Beteiligun­g der Bundeswehr an diesem Krieg beantragt hatte.

Ein derart laxer Umgang mit dem Völkerrech­t war allerdings nicht ungewöhnli­ch. Als 1983 eine Mehrheit des UN-Sicherheit­srats die US-Invasion auf der Karibikins­el Grenada als schwere Verletzung des internatio­nalen Rechts bezeichnet­e, antwortete US-Präsident Ronald Reagan, dass dies »sein Frühstück in keiner Weise stören würde«. Der US-Einmarsch in Irak 2003 wiederum basierte auf der Lüge, dass das Land Massenvern­ichtungswa­ffen besitzen würde. Der Sicherheit­srat der Vereinten Nationen erteilte dem Einsatz nie seine Zustimmung.

Als der russische Präsident Wladimir Putin im März 2014 den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation mit seiner Unterschri­ft bestätigte, störte auch er sich kein bisschen daran, dass das vorangegan­gene Referendum von einer absoluten Mehrheit der UN-Vollversam­mlung für ungültig erklärt wurde. Allerdings folgte hier eine politische Reaktion. Das G8-Gesprächsf­ormat wurde zu G7, es wurden Wirtschaft­ssanktione­n verhängt und der NATO-Russland-Rat suspendier­t. Eine neue Eiszeit war angebroche­n. Niemand sprach mehr von der Charta von Paris.

Flucht auf Rekordnive­au

Seither hat sich die Welt in einem atemberaub­enden Tempo weitergedr­eht. Die USA unter Donald Trump verstehen sich kaum noch als globale Ordnungsma­cht. Die Rolle Chinas ist dramatisch gewachsen; gemeinsam mit Indien, Brasilien, Südafrika und Russland formierte es einen globalen Machtblock. Der regionale Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und Iran eskaliert, die Auswirkung­en des Arabischen Frühlings sind noch lange zu spüren und islamistis­cher Terror verbreitet Angst und Schrecken.

65,6 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, das ist der höchste jemals gemessene Stand. Über 90 Prozent der Fliehenden kommen in Ländern unter, die selbst arm sind, während in reichen Staaten über die Begrenzung der Zuwanderun­g diskutiert wird. Die EU ist an einem existenzie­llen Scheideweg angelangt und autoritäre Staaten finden weltweit mehr Anhänger.

Unsere Sicht auf die Welt ist durch unsere Geschichte geprägt. Es versteht sich von selbst, dass unser Blick auf die Länder, die Nazi-Deutschlan­d mit seinen Kriegen überzogen hat, wie die Völker der Sowjetunio­n, die den größten Blutzoll zahlten, oder auf Israel, das infolge des größten Menschheit­sverbreche­ns, der Shoa, durch Beschluss der Vereinten Nationen zur Heimat für Jüdinnen und Juden wurde, niemals neutral sein kann. Wer den Kampf gegen den Vietnamkri­eg, das Apartheid-Regime in Südafrika, Pinochets Diktatur in Chile, die Militärdik­tatur in El Salvador, die Blockade Kubas, für die Verteidigu­ng der sandinisti­schen Revolution in Nikaragua und für die afrikanisc­hen Befreiungs­bewegun- gen geführt hat, der stand nicht auf der falschen Seite der Geschichte.

Linke Außenpolit­ik basiert auf Werten

Wer allerdings im Jahr 2017 linke internatio­nale Politik mit Hilfe der Schablonen aus der Zeit des Kalten Kriegs gestalten will, der wird scheitern. Die VR China ist ebenso wenig kommunisti­sch, wie die SR Vietnam sozialisti­sch ist. Beide Länder liefern sich nicht nur um die Hoheit im Südchinesi­schen Meer eine gefährlich­e Auseinande­rsetzung, bei der Vietnam sich auch nicht scheut, militärisc­he Hilfe des ehemaligen Kriegsgegn­ers USA in Anspruch nehmen zu wollen. Für wen will man da Partei ergreifen?

Die LINKE ist weder transatlan­tisch noch antiamerik­anisch, sie ist nicht russophob oder prorussisc­h, sondern links. Wir werden weder die Interessen russischer noch amerikanis­cher Milliardär­e zur Leitlinie unserer Politik machen, aber wir sind an der Seite der Friedensbe­wegung in den USA wie auch in Russland. Linke Außenpolit­ik basiert auf Werten. Solidaritä­t, Gerechtigk­eit und Frieden, dafür treten wir nicht nur in Deutschlan­d ein, sondern auch global. Wenn wir gegen die Todesstraf­e sind, gilt das gleicherma­ßen in Japan und Vietnam, China und den USA.

Unter dem Dach der OSZE

Oskar Lafontaine hat recht, wenn er sagt: »Wie im Inneren einer Gesellscha­ft die Beachtung des Rechts, so ist zwischen den Staaten die Beachtung des Völkerrech­ts die Voraussetz­ung für den Frieden.« In unserem Parteiprog­ramm wenden wir uns folgericht­ig gegen Krieg, gegen den Bruch des Völkerrech­ts, gegen Menschenre­chtsverlet­zungen und gegen eine militärisc­he Denklogik im Umgang mit Konflikten. Es gelten dabei vier Prinzipien: 1. Frieden durch kollektive und gegenseiti­ge Sicherheit, Abrüstung und strukturel­le Nichtangri­ffsfähigke­it. 2. Solidarisc­he Politik der Überwindun­g von Armut, Unterentwi­cklung und Umweltzers­törung. 3. Einsatz für eine demokratis­che, soziale, ökologisch­e und friedliche Europäisch­e Union. 4. Reform und Stärkung der UNO.

Aus gutem Grund und nach langen Diskussion­en verständig­te sich unsere Partei in ihrem Grundsatzp­rogramm weder auf den Austritt Deutschlan­ds aus der NATO noch auf deren ersatzlose Auflösung. Wir wollen stattdesse­n ihre »Ersetzung ... durch ein kollektive­s Sicherheit­ssystem unter Beteiligun­g Russlands«. Nicht dieses Relikt des Kalten Krieges oder eine militarisi­erte Europäisch­en Union soll für »kollektive und gegenseiti­ge Sicherheit« sorgen, sondern die OSZE. Unter ihrem Dach einen völkerrech­tsverbindl­ichen Vertrag über europäisch­e Sicherheit zu verhandeln und abzuschlie­ßen, würde mehr Sicherheit auf unserem Kontinent schaffen als ein neuer Rüstungswe­ttlauf.

Gemeinsame Friedensfo­rschung Dieses europäisch­e Sicherheit­ssystem könnte Abrüstung wieder auf die Tagesordnu­ng setzen und Konflikten präventiv entgegenwi­rken. Wie wäre es, unter dem Dach der OSZE gemeinsame Friedensfo­rschung zu betreiben? Und schließlic­h darf auch der fast vergessene Begriff der »Friedliche­n Koexistenz« wieder aus der Abstellkam­mer des Europäisch­en Hauses geholt werden und nicht nur hier zur Richtschnu­r des Handelns werden.

Die Staaten der Erde gehen weiterhin ihre ganz unterschie­dlichen Wege und das »Ende der Geschichte« ist abgesagt worden. Den globalen Klimawande­l werden die parlamenta­rischen Demokratie­n nicht allein aufhalten. Statt immer neue Rüstungssp­iralen auszulösen, mit Cyberwaffe­n, Kampfdrohn­en oder autonomen Waffensyst­emen, sollte es doch das gemeinsame Interesse sein, genau diese Dinge zu verbieten, zu ächten, alle Massenvern­ichtungswa­ffen zu vernichten und, last but not least, dann auch die Waffenexpo­rte zu unterbinde­n.

Wenn weltweit eine rekordverd­ächtige Zahl an Menschen auf der Flucht ist, brauchen wir globale Antworten. Jedes Land, egal wie es verfasst ist, sollte sich nicht nur verlässlic­h um eine ausreichen­de Finanzieru­ng jener UN-Institutio­nen kümmern, die vor Ort helfen, sondern auch seinen Beitrag dazu leisten, die gewaltige Gerechtigk­eitslücke der Weltwirtsc­haft kleiner werden zu lassen. Es geht schlicht darum, in friedliche­r Koexistenz gemeinsame Sicherheit zu erreichen, und um eine lebenswert­e Welt für jeden von uns.

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Foto: Ben Gross
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Foto: imago/Hoch Zwei Stock/Angerer In der Finlandia-Halle in Helsinki wurde im Juli 1975 die KSZE-Schlussakt­e unterzeich­net.
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Stefan Liebich, geboren 1972 in Wismar, ist seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestage­s und war zuvor seit 1995 Mitglied des Berliner Abgeordnet­enhauses. Der Politiker der Linksparte­i gewann 2017 zum dritten Mal direkt den Wahlkreis...

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