Rohingya suchen Rettung
Außenminister besuchen Flüchtlingslager in Bangladesch und sagen Hilfe zu
Cox’s Bazar. In endloser Reihe ziehen Angehörige des Volkes der Rohingya aus Myanmar als Flüchtlinge in das Nachbarland Bangladesch. Hunderttausende Opfer von brutaler Verfolgung und Vertreibung durch das Militär suchen, ihr nacktes Leben zu retten. Sie finden sich in den Elendshütten überfüllter Flüchtlingslager wieder. Dort gibt es trotz erbärmlichster äußerer Bedingungen vielleicht doch wenigstens das Nötigste – Wasser und Nahrung.
Bei seinem Besuch im Lager Kutupalong im Distrikt Cox’s Bazar von Bangladesch wollte der geschäftsführende Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) gemeinsam mit der EUAußenbeauftragten Federica Mogherini, der schwedischen Außenministerin Margot Wallström und dem japanischen Außenminister Taro Kono am Sonntag ein »internationales Zeichen der Solidarität« setzen. Mogherini kündigte Hilfe der EU bei Verhandlungen zwischen Bangladesch und Myanmar über die Rückkehr der geflohenen Rohingya-Muslime an: »Ich hoffe, dass wir zu einer nachhaltigen Lösung beitragen können.« Am Sonntag wurde auch der chinesische Außenminister Wangt Yi in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka erwartet.
Der von der »dramatischen Lage« beeindruckte deutsche Politiker sagte eine zusätzliche Hilfe von 20 Millionen Euro, vor allem aber auch politische Unterstützung zu. Am Montag will er Myanmars starke Frau, Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, treffen. Ihr wird allzu große Zurückhaltung angesichts der Verfolgung und Vertreibung der Rohingya-Minderheit aus ihrem Land vorgeworfen. Das wird wohl am Montag und Dienstag in Myanmar auch Thema des Außenministertreffens zur Vorbereitung des zwölften Europa-Asien-Gipfels (ASEM) im Oktober 2018 sein.
Das Datum ist bekannt: Am 25. August 2017 begann die Armee von Myanmar mit der gewaltsamen Vertreibung der muslimischen Rohingya. Myanmar hatte die Rohingya in Bausch und Bogen zu »Terroristen« erklärt, nachdem die Rebellengruppe »Arakan Rohingya Salvation Army« Polizeiposten angegriffen und neun Menschen getötet hatte. Mehr als 600 000 Rohingya sind inzwischen nach Cox’s Bazar in Bangladesch geflohen. Dort leben seit Jahrzehnten etwa 400 000 Rohingya, die vor periodischen Gewaltwellen geflohen waren. In den Lagern entwickelt sich eine Tragödie, die mit dem Leid, der Not und der Perspektivlosigkeit der Palästinenserflüchtlinge vergleichbar ist.
Marun Hassan schaut mich lange mit großen, glänzenden und traurigen Augen an. Dann kommt der achtjährige Rohingya-Junge in dem schmutzigen Poloshirt mit dem zynisch anmutenden Aufdruck »Summer Feeling« zaghaft näher. Er hält für den Bruchteil einer Sekunde in der Bewegung inne, bevor er sich traut, kurz meinen Arm zu berühren. Ich gehe weiter. Marun folgt mir eine halbe Stunde auf Schritt und Tritt durch das von der Sonne aufgeheizte, staubige Flüchtlingslager Kutupalong im Distrikt Cox’s Bazar in Bangladesch. Will er Geld? Will er einfach mal in den Arm genommen werden? Ich weiß es nicht. Ich spreche seine Sprache nicht, er spricht kein Englisch. Mehr als die Hälfte, also über 300 000 Flüchtlinge, sind Kinder und Jugendliche.
Zufällig treffen wir einen Bangladeschi, der übersetzen kann. »Ich bin nicht glücklich hier«, sagt Marun Hassan leise. »Unser Haus in Rakhine war größer und schöner.« Wie die anderer Rohingya-Flüchtlinge lebt Marun in einer provisorischen Hütte. Über das wackelige Bambusgerüst sind schwarze Plastikbahnen als Wände und Dach gespannt. Maruns Eltern sind nicht da. »Heute gibt es Reis und Öl. Sie sind zu der Verteilungsstelle gegangen.«
Es ist Nachmittag, die Sonne scheint. Die Feldwege aus gelber Erde zwischen den Hütten sind staubig. Am Vormittag waren sie noch reine Schlammpisten. Ein tropisches Tief über dem nahen Golf von Bengalen bescherte dem Lager einen Wolkenbruch. Alles war klatschnass. Auch die unbefestigten Böden in den Hütten. In dem Flüchtlingslager leben mindestens so viele Einwohner wie in Düsseldorf. Hütten, Hütten, Hütten, soweit das Auge reicht.
Für den Bau des Lagers in dem hügeligen Gebiet wurde der Wald abgeholzt. »Damit sind Erdrutsche bei schweren Regenfällen und bei den Taifunen während des Monsuns programmiert«, sagt Evan Parag Sarker von der »Christian Commission for Development Bangladesh« (CCDB). Die Partnerorganisation der Diakonie Katastrophenhilfe hat an diesem 1. November die Verteilung von Nahrungsmitteln für 1850 Familien organisiert.
Schmutzig wie das Polohemd von Marun ist auch dessen Träger selbst. Das Wasser in dem Megaslum reicht gerade einmal zum Kochen und ab und an für eine Katzenwäsche. »Viele der Flüchtlinge leiden an Hautkrankheiten«, weiß der Arzt Uzzal, der für die Weltgesundheitsorganisation in dem Lager arbeitet. Ein anderes großes Gesundheitsproblem seien Atemwegserkrankungen.
Die Hütten sind bei Regen feucht und kühl, nachts sind sie kalt. Es ist Winterbeginn und die Temperaturen fallen nach Sonnenuntergang auf nur noch zehn Grad Celsius. Wärmende Decken sind Mangelware. Zudem kursieren Krankheiten wie Hepatitis, Malaria oder Masern. »In Myanmar hatten die Rohingya kaum Zugang zu medizinischer Hilfe. Deshalb haben sie keinerlei Impfungen erhalten«, erklärt der Arzt Uzzal.
Kutupalong ist ein Stelldichein von weltlichen, christlichen und islamischen Hilfsorganisationen aus Bangladesch und der ganzen Welt. Die Armee sorgt für Ordnung im Lager. Über ein Gremium, das aus Vertretern der Hilfsorganisationen, der Vereinten Nationen und der Behörden von Bangladesch besteht, wird die Hilfe koordiniert. Vieles scheint ohne größere Probleme zu laufen, wie die Lebensmitteilverteilung an diesem Tag.
Für 500 Taka (5,18 Euro) schleppen junge Rohingya die Reissäcke, die Kisten mit Kochöl in Flaschen, die Pakete mit Zucker und Salz, die Tüten mit Linsen von den Lkw zur Verteilungsstelle. »Das ist gut«, sagt Rahman, 17, einer der Träger. »Wenigstens haben wir heute zu tun und verdienen etwas Geld. Hier gibt es ja sonst keine Arbeit und das Lager dürfen wir nicht verlassen.«
Schubweise kommen Flüchtlinge, geben ihre Lebensmittelmarken ab, erhalten ihre Ration für die nächsten 14 Tage. Den Reis hat das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen geliefert. Die anderen Lebensmittel sind Spenden von Hilfsorganisationen aus den USA, Kanada und Norwegen. Solche Verteilungen gab es als Gemeinschaftsprojekte des WFP und privater Hilfsorganisationen Ende Oktober und Anfang November für alle 600 000 Flüchtlinge.
Seit Mitte November übernahm das WFP die Lebensmittelversorgung komplett. Die anderen Hilfsorganisationen können sich anderen Aufgaben zuwenden. Davon gibt es mehr als genug: Einrichtung von Kindergärten, Schulen, Gesundheitszent- ren, Aufbau von »Stadtteilverwaltungen« in der Flüchtlingsgroßstadt, Einrichtung von Hilfestellen für Frauen, die Opfer sexueller und/oder häuslicher Gewalt geworden sind, sowie Seuchenvorbeugung.
Inzwischen gibt es Latrinen. Es stinkt in dem Lager und die Fäkalien ziehen Schwärme von Fliegen an. Die Hilfsorganisationen und die Behörden haben ihre liebe Not, angesichts der Flüchtlingswelle mit den Hygienemaßnahmen und der Wasserversorgung Schritt zu halten. Von den 4370 Handwasserpumpen in Kutupalong sind 30 Prozent in einem schlechten Zustand, heißt es im Ende Oktober veröffentlichten Bericht der »Inter-Sector Coordination Group«. Bereits 36 Prozent der 24 773 Latrinen drohen überzulaufen. Durchfallerkrankungen nehmen zu und Experten befürchten den Ausbruch der Cholera. Das Englische Kürzel WASH steht für »Waschen, Sanitär und Hygiene«. Doch immer wieder treffen neue Flüchtlinge ein, es werden immer mehr. »Das führt zu einer Überlastung der WASH-Einrichtungen«, heißt es in dem Bericht.
Ein anderes großes Problem ist »Hilfe« der unerwünschten Art. »Nachts kommen die Burkas«, sagt Evan Parag Sarker. Der Experte von der CCDB meint die Aktivitäten fun- damentalistischer islamistischer Gruppen, die in dem Lager Moscheen einrichten, Madrassen (Koranschulen) gründen und Frauen in Burkas zwingen. »Die meisten Flüchtlingsfrauen sind ohne Kopftücher und Burkas hier angekommen«, sagt Evan Parag Sarker. »Jetzt schauen Sie mal, wie viele schon Burkas tragen.«
Um die Zukunft der Flüchtlinge ist es schlecht bestellt. Myanmar spielt ein Verwirrspiel, ob, wann und zu welchen Bedingungen es die Rohingya wieder zurück ins Land lässt. »Bangladesch will mit der Repatriierung so bald wie möglich beginnen«, ließ Myanmars Außenministerin Aung San Suu Kyi Ende Oktober verkünden. Ihre Regierung wolle aber lieber erst mit Bangladesch bis Ende November eine gemeinsame Arbeitsgruppe bilden. Dann wieder wirft Myanmar Bangladesch vor, aus Geldgier den Beginn der Rückführung der über einer halben Million RohingyaFlüchtlinge zu verschleppen. Myanmars Regierungssprecher U Zaw Htay tönte Anfang November, der Grund dafür sei die Ankündigung von Bangladesch, das größte Flüchtlingslager der Welt zu bauen. Geberländer hätten dafür in Genf in der Schweiz »Hunderte Millionen Dollar gespendet« – die wolle das Land, lautet der nur dürftig versteckte Vorwurf.
Die Militärführung Myanmars und hochrangige buddhistische Äbte lehnen eine Rückkehr der Rohingya kaum verklausuliert ab. Nur solche dürften irgendwann zurück, die »nicht auf ihrer Identität als Rohingya beharren«, verkündeten jüngst buddhistische Äbte in Rakhine. Das ist der Bundesstaat, aus dem die Rohingya vertrieben wurden. In Myanmar gelten die Rohingya als illegal aus Bangladesch eingewanderte Bengalen.
Die Armee will nur solche Rohingya wieder ins Land lassen, die nachweisen können, dass sie in Rakhine gelebt haben. Diese Bedingung können die allermeisten Rohingya nicht erfüllen. In Myanmar gelten sie als Staatenlose und verfügen folglich über keinerlei Ausweispapiere. Wenn doch der eine oder andere Dokumente hatte, dann sind diese bei der Niederbrennung der Rohingya-Dörfer durch die Armee in Flammen aufgegangen.
Von den Flüchtlingen will kaum einer zurück. »Formal gesehen gelten sie hier im Gastland nicht als Bürger«, sagt Meghna Guhathakurta. »Aber als längerfristige Flüchtlinge haben sie wenigstens gewisse fundamentale Rechte auf Unterkunft, Nahrung, Gesundheitsfürsorge und Schulbildung, die ihnen humanitäre Hilfsorganisationen oder die Behörden des Gastlandes bieten«, fügt die Sozialwissenschaftlerin hinzu. Sie forscht am Institut »Research Initiatives Bangladesh« in Dhaka seit Jahren zu den Perspektiven der Rohingya in Bangladesch.
Mohammed Noor ist seit zwei Wochen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Kutupalong. Zurück nach Rakhine will der 25 Jahre alte Lehrer nicht. Von den schwierigen Bedingungen im Lager ist er alles andere als begeistert. »Aber hier sind wir wenigstens sicher. Das ist das Wichtigste.« Ein Bruder und eine Schwester von Noor wurden von den Soldaten der Armee von Myanmar umgebracht.