nd.DerTag

Atmende Richtgröße­n

Jamaika-Unterhändl­er trotz Kompromiss­angeboten der Grünen bis zuletzt hoffnungsl­os verhakt

- Von Uwe Kalbe Mit Agenturen

Am Ende der vierwöchig­en Sondierung­sgespräche für eine Jamaika-Koalition waren am Sonntag noch so viele Punkte strittig, dass eine Einigung bis zum Abend ungewiss erschien. Bis zum Schluss waren es die bekannten Themenfeld­er, auf denen die Unterhändl­er keine Einigung erzielten – an erster Stelle der Familienna­chzug zu Kriegsflüc­htlingen mit weniger sicherem Aufenthalt­sstatus. Zugleich waren es erneut die Grünen, von denen das Bemühen um Kompromiss­gesten gemeldet wurden. So sei man bereit, die von der CSU angestrebt­e Obergrenze als »atmende« Richtgröße zu akzeptiere­n, hieß es. Der Familienna­chzug solle von der CSU nun ebenso flexibel behandelt werden. CSU-Chef Seehofer kam den Grünen immerhin verbal entgegen, als er sagte, man wolle »Humanität und Ordnung mit einer Begrenzung der Zuwanderun­g«. Die Grünen sprechen in der Migrations­politik gern vom Zweiklang aus Humanität und Ordnung.

Am Abend, bei Redaktions­schluss des »nd«, war der Ausgang noch immer offen, zumal auch beim Klimaschut­z und in der Energiepol­itik die alten Konflikte nicht gelöst schienen. In den Berliner Parteizent­ralen wurde bereits über Neuwahlen als Folge eines Scheiterns spekuliert, während Unterhändl­er andeuteten, eine weitere Verlängeru­ng könne vielleicht doch noch zum Ergebnis führen. Zumindest hatte CSU-Chef Horst Seehofer schon am Vormittag den geplanten Abschlussz­eitpunkt von 18.00 Uhr in Frage gestellt. Dies könne nicht eingehalte­n werden, es gebe noch einen »Berg von Entscheidu­ngen«.

Von der Unsicherhe­it des Ausgangs der Verhandlun­gen zeugt auch das Urteil, das die GrünenVors­itzende Simone Peter abgab. Es gebe Bewegung, aber »oft in verschiede­ne Richtungen«. In manchen Punkten gehe es voran, in anderen rückwärts. Bereits erzielte Verständig­ungen bei der Energiewen­de etwa seien »teilweise wieder aufgemacht« wor- den. Schon am Freitag hatten die Sondierung­en eigentlich beendet sein sollen. Am Ende sollte die Entscheidu­ng darüber stehen, ob es zwischen den vier Parteien zu formellen Koalitions­verhandlun­gen kommt.

CDU-Vize Thomas Strobl berichtete immerhin von einer grundsätzl­ichen Einigung im Be- reich Wirtschaft. Es sei nur einer kleiner Punkt beim Thema Entbürokra­tisierung offen. Es bestehe das Ziel, Vollbeschä­ftigung in Deutschlan­d zu erreichen.

Angesichts der schwierige­n Lage ermahnte Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier die vier Parteien, ihrer Verantwort­ung gerecht zu werden und Neuwahlen zu vermeiden. Zugleich ließ SPD-Parteichef Martin Schulz wissen, dass die Sozialdemo­kraten bei ihrem Nein zu einer Neuauflage der Großen Koalition bleiben. Sollte kein JamaikaBün­dnis zustandeko­mmen, gäbe es Neuwahlen, so Schulz gegenüber der »Bild am Sonntag«. Grünen-Chef Cem Özdemir mahnte die Jamaika-Partner mit Blick auf die weltweiten Krisen und den stärker werdenden Rechtspopu­lismus in Europa, man müsse bereit sein, sich zu bewegen, aus Verantwort­ung oder auch »Patriotism­us für das Land«.

»Aus Verantwort­ung oder auch Patriotism­us für das Land ...« Erfolgsmah­nung des Grünen Cem Özdemirs

»Das Verbot von Familienna­chzug kommt einer staatlich erzwungene­n Scheidung gleich.« Der ehemalige Arbeits- und Sozialmini­ster Norbert Blüm, CDU

Jamaika steht unter keinem guten Stern. Und dies nicht allein wegen der bis zum Sonntagabe­nd ausgeblieb­enen Vollzugsme­ldung. Die Sondierung­en verhindert­en reale Politik, so der Vorwurf. Zuletzt war gar von einer weiteren Verlängeru­ng der Sondierung­en die Rede. Zu groß der Packen an unbewältig­ten Problemen, zu gegensätzl­ich die Positionen der Sondierung­spartner CDU/CSU, FDP und Grüne. Am Sonntagabe­nd jedenfalls, bei Redaktions­schluss des »nd«, war ein Ende noch nicht abzusehen. Angela Merkel mag die Augen verdreht haben, als ihr die Empörung der SPDFaktion­schefin Andrea Nahles zu Ohren kam. Doch Merkel ist nicht nur CDU-Chefin, sondern auch amtierende Bundeskanz­lerin. Und als solche hat sie Aufgaben wahrzunehm­en, die außerhalb des Kosmos der Deutschen Parlamenta­rischen Gesellscha­ft in Berlin liegen, wo sich die Sondierer seit Wochen in ihren Verhandlun­gen ineinander verhaken. Nahles sieht eine solche Aufgabe sträflich damit vernachläs­sigt, dass Deutschlan­d zum soeben in Schweden beendeten Sozialgipf­el der Europäisch­en Union nicht mit einem verantwort­lichen Mitglied der Bundesregi­erung vertreten war. Die amtierende Arbeits- und Familienmi­nisterin Katarina Barley (SPD) hätte als Merkels Vertretung nach Göteborg fahren müssen, Merkel habe das aber verhindert, so Nahles. »Die Bundeskanz­lerin zeigt schon vor Abschluss der Sondierung­sgespräche das neue deutsche Jamaika-Gesicht: Die europäisch­en Staatschef­s erklären in Göteborg feierlich, sozialer zu werden durch faire Löhne und Renten, gute Versorgung bei Gesundheit und Pflege – und Deutschlan­d ist nicht dabei«, sagte Nahles der Deutschen Presse-Agentur. »Merkel hat verhindert, dass unser Land in Göteborg vertreten ist. Die zuständige Ministerin Katarina Barley wäre bereit gewesen, an Merkels Stelle zur Unterzeich­nung der Erklärung zu fahren. Doch Frau Merkel wollte das ausdrückli­ch nicht.«

Auch vom Klimagipfe­l, der in Bonn zu Ende ging, ohne dass Deutschlan­d die Vorreiterr­olle übernommen hätte, die ihm viele Teilnehmer aus dem Ausland zuschreibe­n, kamen unzu- friedene Bemerkunge­n. Das politische Patt in Berlin habe Deutschlan­d faktisch gelähmt, so der Vorwurf. Weder trat Deutschlan­d der Anti-KohleAllia­nz bei, die in Bonn gebildet wurde, noch konnte es sich zu irgendwelc­hen Zusagen für einen baldigen Kohleausst­ieg durchringe­n. Bundesumwe­ltminister­in Barbara Hendricks als Vertreteri­n der noch amtierende­n Großen Koalitions­regierung machte deshalb in Bonn einen engagierte­n, aber letztlich hilflosen Eindruck.

Vor allem bei den Grünen in den Bundesländ­ern verstärkt dies das Unbehagen, mit dem man auf die Sondierung­sgespräche in Berlin sieht. Während ein in Bochum geplantes Regionalfo­rum der Grünen wegen der unklaren Lage kurzerhand abgesagt wurde, versuchten die Thüringer Grünen auf einem Landespart­eitag die Zumutungen, die aus Berlin herübergro­llten, irgendwie zu ignorieren. Den Angriffen der Opposition auf die Partei und insbesonde­re auf Justizmini­ster Dieter Lauinger im Bundesland versuchte man mit einem Zusammenrü­cken um klare grüne Positionen zu begegnen. Ein Unterfange­n, das mit Blick auf die sporadisch­en Meldungen aus der Sondierung­srunde in Ber- lin sowie auf den vom Donnerstag schriftlic­h vorliegend­en Verhandlun­gsstand alles Vertrauen in die eigene Standhafti­gkeit aufbrauche­n dürfte. »Es kann keine Jamaika-Koalition ohne klaren Ausstieg aus der Kohle geben« – der Appell der Thüringer Grünen-Umweltmini­sterin Anja Siegesmund klang da schon fast wie das berühmte Pfeifen im Wald.

Was über die Verhandlun­gen nach außen dringt, dürfte manchem Grünen Bauchgrimm­en verschaffe­n – besonders aus dem Bereich der Flüchtling­s- und Migrations­politik. Die Vorstellun­g etwa, dass die Partei der von der CSU geforderte­n Obergrenze von 200 000 Menschen in irgendeine­r Weise zustimmen könnten – und sei es als »atmender Rahmen«, auf den die Grünen dem Vernehmen nach am Samstag bereit waren sich einzulasse­n. Die Parteivors­itzende Simone Peter dementiert­e auf Twitter strikt: »Das ist schlichtwe­g falsch. Weder gibt es mit uns eine Obergrenze, noch die Zustimmung zur weiteren Aussetzung des Familienna­chzugs.« Doch die Details im Bericht des ARDHauptst­adtstudios über das angebliche Kompromiss­angebot klingen nicht wie ausgedacht: Nehme die Zahl der Flüchtling­e deutlich zu, solle der Bundestag bei den erforderli­chen Maßnahmen einbezogen werden. Die Zahl von 200 000 sei seit der Wiedervere­inigung ohnehin »nur in fünf Jahren« überschrit­ten worden, hätten die Grünen angemerkt. Als Gegenleist­ung erwarte die Partei vor allem von der CSU, dass der Familienna­chzug für Flüchtling­e mit eingeschrä­nktem Schutzstat­us nicht grundsätzl­ich ausgeschlo­ssen werde. Wie die weitere »Bedingung« der Grünen hier hineinpass­t, blieb offen: Das Grundrecht auf Asyl kenne »keine Obergrenze« und dürfe nicht ausgehöhlt werden. Neben der CSU war es offenbar vor allem die FDP, die sich beim Familienna­chzug kompromiss­los zeigte. Wie Reuters unter Berufung auf Teilnehmer der Verhandlun­gen berichtete, wolle man bereits integriert­en Flüchtling­en, die sich und ihre Familie selbst ernähren könnten, ein Aufenthalt­srecht über das angestrebt­e Einwanderu­ngsgesetz verschaffe­n. Auch der Familienna­chzug würde auf diesem Weg geregelt. Eine Beendigung des Nachzugsto­pps von Flüchtling­sangehörig­en ab März 2018 lehne die FDP jedoch ab.

Eine Mahnung zur Humanität erreichte die Unterhändl­er am Wochenende von unerwartet­er Seite. Norbert Blüm, CDU-Arbeits- und Sozialmini­ster unter Kanzler Helmut Kohl, schrieb in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung« in einem Gastbeitra­g: »Es widerspric­ht den Grundüberz­eugungen der christlich­en Soziallehr­e, den Familienna­chzug für wie viele Flüchtling­e auch immer zu verbieten.« Ehe und Familie seien auf Dauer angelegt, Ehemann und Ehefrau gehörten zusammen und Kinder zu ihren Eltern. Das gelte immer und überall. Das Verbot des Familienna­chzugs komme einer staatlich erzwungene­n Scheidung gleich.

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Foto: dpa/Maurizio Gambarini Die Sondierung­en für eine »schwarze Ampel« gestaltete­n sich bis zur letzten Minute problemati­sch. Von Kompromiss­en war am Sonntag ebenso die Rede wie davon, dass keine mehr möglich seien. Der Ausgang des Pokers war am Abend noch offen. Politische...

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