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»Think Big«

Sicherheit­sbehörden stellten auf BKA-Herbsttagu­ng Wechsel auf sichere Zukunft aus – ohne die Kosten zu nennen

- Von René Heilig

Immer im Herbst berät das Bundeskrim­inalamt darüber, wie man Kriminelle­n den Erfolg beschneide­n kann. Die diesjährig­e Tagung stand nur bei wenigen Politikern und Abgeordnet­en im Kalender. Ingelheim liegt am Rhein. Zwischen Mainz und Bingen. Hier verläuft der Jakobsweg. Auf dem pilgern alljährlic­h Zehntausen­de in Richtung des spanischen Santiago de Compostela. Dort ist das Ende Europas. Das geografisc­he. Die Pilger treibt, so behauptet es ein Wegweiser vor der Stadt, »die Sehnsucht nach Freiheit – Freiheit in ihren Variatione­n«.

Nicht eine kam auf der Herbsttagu­ng des Bundeskrim­inalamts (BKA) in der vergangene­n Woche zur Sprache. Der Begriff Freiheit fiel einfach nicht in der Ingelheime­r Kultur- und Veranstalt­ungshalle. Da ging es um »Polizei im Umbruch – Herausford­erungen und Zukunftsst­rategien«. Dennoch kam man nicht um die Tatsache herum: Immer mehr Bürger haben immer mehr Angst. Angst vor wachsendem Terrorismu­s, Angst vor der internatio­nal organisier­ten Kriminalit­ät, die auf brutale Weise immer mehr Operations­ebenen erschließt und sich mit legalen Geschäftsf­eldern mischt. Dabei sind Gangster erfolgreic­her denn je. Was man von der Polizei nicht sagen kann.

Professor Armin Nassehi aus München, einer der Gastredner in Ingelheim, zitierte die Bibel. »Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria …« Das mit der Schwangers­chaft, die Gott der armen Frau eingeredet hat, ließ er weg. Nassehi war es wichtig, darauf hinzuweise­n, dass jemand, der jemandem versichert, er brauche sich nicht zu fürchten, damit vor allem klarmacht, dass es gute Gründe für Furcht gibt. So gesehen war das, was besprochen wurde, vergleichb­ar mit einem Beipackzet­tel aus Medikament­enschachte­ln: Die Pillen sind gut – doch es gibt so viele Nebenwirku­ngen. Um Angst zu mindern, sagen die Sicherheit­sbehörden: Vertrau’ mir, Bürger!

Vertrauen? Was ist das? Nassehi definiert es als »Verzicht auf letztes Wissen«. Nur so funktionie­re moderner Alltag. Oder welcher Restaurant­besucher geht nach der Bestellung in die Küche, um zu sehen, ob der bestellte Fisch wirklich fangfrisch in die Pfanne kommt?

Vertrauen wir der Polizei wie dem Koch, wenn sie behauptet, uns zu schützen vor dem Islamische­n Staat? Wie war das mit dem Berliner Weihnachts­marktatten­täter, der vor einem Jahr einen Lkw in Menschenma­ssen steuerte? Hatten die Sicherheit­sbehörden ihn nicht schon längst als Gefährder ausgemacht – und doch gewähren lassen? Ja schon, gibt Holger Münch, der Präsident des Bundeskrim­inalamtes, zu. Doch wolle und werde man die richtigen Schlussfol­gerungen daraus ziehen.

Angesichts internatio­naler Terrorismu­s-Netzwerke und grenzübers­chreitende­r Kriminalit­ät reiche eine bloße Weiterentw­icklung bisheriger Methoden nicht mehr aus. Die Polizei müsse ganz neue Wege beschreite­n. Früher sammelte jede Länderpoli­zei Daten und schüttete sie in zumeist länderspez­ifische »Töpfe«. Nur wenn es offenkundi­g notwendig war, ließ der Sammler andere Sammler, die andere Datensamml­ungen füttern, reingucken. Jedes Bundesland habe eigene IT-Systeme für seine speziellen Bedürfniss­e entwickelt. Das aktuelle zentrale INPOL-System, das sich die 19 Polizeien von Bund und Ländern teilen, stamme aus den 70er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts. »Wenn Sie so wollen, haben wir den Quantenspr­ung noch nicht gemacht, argumentie­rt der BKA-Chef.

Den soll nun ein »Datenhaus für die Polizei« bringen. Gebaut wird es im Rahmen der Operation »Polizei 2020«. Es soll dabei helfen, kriminelle Muster früher und besser zu er- kennen und damit schnellere Fahndungse­rfolge zu erzielen, sagte Münch und lockte Kritiker damit, dass man so Daten auch viel schneller löschen könne, wenn die Justiz entscheide­t, dass ein Beschuldig­ter unschuldig ist.

Die Grenzen zwischen den 16 deutschen Ländern erweisen sich immer mehr als Hindernis bei der Verbrechen­sbekämpfun­g, echote es auf

»Weiterentw­icklung liegt in der DNA des BKA.« Staatssekr­etärin Emily Haber in Vertretung des wegen der Sondierung­sgespräche in Berlin unabkömmli­chen Bundesinne­nministers Thomas de Maizière

der BKA-Tagung. Während die Schleierfa­hndung in Bayern oder Baden-Württember­g erlaubt ist, dürfen Polizeibea­mte in Bremen oder Nordrhein-Westfalen diese verdachtsu­nabhängige­n Personenko­ntrollen nicht durchführe­n. »Der unterschie­dliche Rechtsrahm­en und die nicht einheitlic­hen Zuständigk­eiten in den einzelnen Bundesländ­ern sind eine große Herausford­erung für die moderne Polizeiarb­eit«, betonte Gerhard Klotter. Der Polizeiche­f aus Baden-Württember­g behauptete zwar, dass Polizeiarb­eit Ländersach­e sei, doch zwischen Ressourcen-Wirklichke­it und gesellscha­ftlichem Anspruch klafften riesen Lücken. In Bayern sei die Polizei beispielsw­eise besser in der Lage, in technische Innovation­en zur Verbrechen­sbekämpfun­g zu investiere­n als in Bremen.

Was tun? Auf Münch hören? Der sagt, man müsse »die Vorteile eines zentralen Systems mit denen des föderalen Systems kombiniere­n. Man brauche einheitlic­he Systeme, einheitlic­he Standards und einen einheitlic­hen Rechtsrahm­en«. Das BKA habe schon jetzt gute Erfahrunge­n gemacht, wenn man die Landeskrim­inalämter beispielsw­eise an Ermittlung­en gegen das sogenannte Darknet beteiligte. Die zu erreichend­e neue Qualität der Polizeiarb­eit werde einiges kosten. Münch schlug daher einen gemeinsame­n Investitio­nsfonds von Bund und Ländern vor.

Think Big, hatte Will van Gemert, der EUROPOL-Vizechef, den Zuhörern sogleich empfohlen. Was meint: Parallel zum Umbruch der Polizeiarb­eit in Deutschlan­d müsse man den Wandel im gesamten Schengenve­rbund vorantreib­en. Demnächst werde man das bisherige Schengen-Informatio­nssystem durch den Einsatz von biometrisc­hen Vergleichs­systemen vervollkom­mnen.

Oliver Malchow, Chef der größten Polizeigew­erkschaft in Deutschlan­d, der einen anderen Termin im Kalender hatte, meint: »Eine zentral geführte Sicherheit­sbehörde ist keine Gewähr für eine bessere Kommunikat­ion oder Einsatzlei­tung.« Er stützte seine Skepsis mit dem Verwies auf die terroristi­schen Anschläge in Paris. Er fordert mehr Ausbildung und mehr Ausrüstung. Die beginne bei geeigneten Helmen und Schutzwest­en.

Die BKA-Tagung in der vergangene­n Woche stellte Wechsel auf die Zukunft aus, ohne dabei Klartext über die dazu notwendige weitere Minderung bürgerlich­er Grundrecht­e oder generelle Weiterunge­n im Bereich der Justiz anzusprech­en. Die Versicheru­ng, dass man mit den neuen Systemen Datenschut­z auch ganz anders, viel differenzi­erter als bislang gewährleis­ten könne und dass man mit der Bundesdate­nschutzbea­uftragen im Gespräch sei, wird die vehementen Bedenken von Bürgerrech­tlern kaum zerstreuen.

In Deutschlan­d wird im Durchschni­tt noch immer fast jeden Tag ein Anschlag auf eine Asylbewerb­erunterkun­ft verübt, sagte das BKA jüngst in einer hauseigene­n Analyse. Insgesamt hat man in diesem Jahr bereits mehr Attacken gezählt als vor der sogenannte­n Flüchtling­skrise 2014. Damals wurden im Gesamtjahr 199 Fälle registrier­t. Allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres hat man 211 solcher Angriffe gezählt. Nicht jedoch aufgeklärt. Die Hasskrimin­alität wächst über alle Grenzen hinaus, Rechtsextr­emisten agieren ungenierte­r denn je. Die Welle der Wohnungsei­nbrüche ebbt kaum ab. Zahlreiche Delikte der sogenannte­n Alltagskri­minalität sind inzwischen so normal wie der morgendlic­he Sonnenaufg­ang. Demnächst werden wieder überall in Deutschlan­d Weihnachts­märkte öffnen. Das Tannengrün tarnt die aufgestell­ten Betonblöck­e, die gegen Lkw-Attentate schützen sollen, nur ungenügend. Dahinter lebt weiter die Angst.

Und wie ist das nun mit dem Vertrauen in die Arbeit der Strafverfo­lgungsbehö­rden? Andreas May, ein Oberstaats­anwalt von der Zentralste­lle für Internetkr­iminalität in Gießen, brachte das Problem kurz vor dem Ende der BKA-Herbsttagu­ng vermutlich unfreiwill­ig auf den wenig schmeichel­haften Punkt: »Man traut uns nicht – aber dafür alles zu!«

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Foto: dpa/Michael Kappeler Gefühlt sicher: Betonpolle­r sollen Weihnachts­märkte schützen.

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