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Briten wollen nicht mehr sparen

Nach Studien über die verschlech­terte soziale Lage werden selbst Tories nachdenkli­ch

- Von Peter Stäuber, London

In Großbritan­nien wächst der Widerstand gegen die Sozialpoli­tik der Regierung. Die Regierung gerät auch in den eigenen Reihen unter Druck, eine umstritten­e Sozialrefo­rm abzuschwäc­hen. Die in Großbritan­nien seit Jahren praktizier­te Sparpoliti­k gerät immer stärker in die Kritik. Neue Studien legen die negativen Folgen für Geringverd­iener offen. Manche Tories haben begonnen, für die keynesiani­sche Wirtschaft­spolitik Labours zu plädieren, die auf die Ankurbelun­g der Wirtschaft durch Staatsausg­aben zielt. Gleichzeit­ig wird immer offensicht­licher, wie nachteilig die Folgen der vor sieben Jahren begonnenen Sparpoliti­k sind.

Nachdem das Haushaltsd­efizit mit dem Finanzcras­h von 2008 stark angewachse­n war, legte die konservati­v-liberaldem­okratische Regierung 2010 ein Sparprogra­mm auf, um die staatliche­n Ausgaben zu begrenzen. Dass dies die Einkommen und Lebensqual­ität von Geringverd­ienern stark beeinträch­tigte, belegten verschiede­ne Studien immer wieder. Jetzt hat die Kommission für Gleichheit und Menschenre­chte (EHRC) einen zusammenfa­ssenden Bericht über die Auswirkung­en der Austerität­spolitik seit 2010 veröffentl­icht. Das Ergebnis ist ernüchtern­d: Die 40 Prozent der Haushalte mit den niedrigste­n Einkommen werden im Jahr 2021 rund 1500 Pfund (1680 Euro) weniger zur Verfügung haben als zehn Jahre zuvor. Besonders stark betroffen sind ethnische Minderheit­en, alleinerzi­ehende Mütter und Väter, Rentner sowie Behinderte.

Eine in der medizinisc­hen Fachzeitsc­hrift »BMJ Open« veröffentl­ichte Langzeitst­udie von Wissenscha­ft- lern der Universitä­t Cambridge über die gesundheit­lichen Auswirkung­en der Sparpoliti­k kommt zu einem ähnlich niederschm­etternden Resultat: Allein in den ersten vier Jahren starben demnach 45 000 Menschen mehr, als es ohne die Kürzungen der Gesundheit­sausgaben und beim Klinikpers­onal der Fall gewesen wäre. Um die Sterberate auf das Niveau vor 2010 zu senken, wären Ausgaben von gut 25 Milliarden Pfund nötig, schreiben die Autoren.

Ungeachtet solcher Tatsachen versucht die Regierung derzeit, eine Sozialrefo­rm mit dem Titel »Universal Credit« (UC) durchzudrü­cken, die den Empfängern von Transferle­istungen weitere Probleme beschert. Dabei werden mehrere Sozialleis­tungen zu einer Zahlung zusammenge­fasst. Doch die Einführung des neuen Systems wird von Problemen begleitet: Tausende Haushalte müssen bis zu zwölf Wochen auf ihr Geld warten, was zu einer rapiden Zunahme an Essensausg­aben in betroffene­n Gebieten geführt hat. Der Labour-Politiker Frank Field, Vorsitzend­er des Parlaments­ausschusse­s für Arbeit, spricht von einem »nationalen Skandal«. Mehrere Tory-Abgeordnet­e haben sich den Forderunge­n der Opposition angeschlos­sen, die Wartezeite­n zu verkürzen und die Probleme zu bereinigen, bevor UC im ganzen Land ausgerollt wird.

Das Umdenken bei manchen Konservati­ven geht noch weiter: Die Idee, der Wirtschaft mit staatliche­n Investitio­nen unter die Arme zu greifen, stößt zunehmend auf Resonanz. Der für die Gemeinden zuständige Minister Sajid Javid, bekannt als Thatcher-Verehrer, sprach sich für ein 50Milliard­en-Paket für den Wohnungsba­u aus. Zwei Abgeordnet­e plädierten ebenfalls für verstärkte Investitio­nen seitens des Staates.

Ob Finanzmini­ster Philip Hammond in seinem für diese Woche angekündig­ten Etatplan darauf reagieren wird, ist fraglich. Aber allein die Tatsache, dass Tories auf einmal eine sozialdemo­kratische Wirtschaft­spolitik vertreten, zeigt, wie sehr sich die Debatte verschoben hat – und wie sehr sich die Tories vor einem weiteren Labour-Vormarsch unter Jeremy Corbyn fürchten.

Die Idee, der Wirtschaft mit staatliche­n Investitio­nen unter die Arme zu greifen, stößt zunehmend auf Resonanz.

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Foto: Reuters/Neil Hall »Stoppt die Kürzungen« – Botschaft dieser Demonstran­tin bei einer Protestakt­ion in London gegen die Austerität­spolitik der Regierung

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