nd.DerTag

Flucht aus dem KZ

»Das siebte Kreuz« von Anna Seghers am Schauspiel Frankfurt am Main

- Von Hans-Dieter Schütt

»Das siebte Kreuz« am Schauspiel Frankfurt.

Erst in seinem langweilig­en Lauf erfüllt sich würdiges Leben. Oberste Staatsaufg­abe ist es, den Menschen aus der Gefahr zu retten, Retter zu werden, Rebell, Revolution­är. Einzig eine Mäßigung der strukturel­len Kräfte in einer Gesellscha­ft befreit den Einzelnen vom Unglück, sich im nötigen Widerstand gegen das Bestehende an eigener Courage verbrennen zu müssen. Dem ganz und gar Tapferen, der wahrlich mit Haut und Haar, Leib und Seele mutig ist – ihm wird später anerkennen­d bescheinig­t, er habe sein Leben: aufs Spiel gesetzt. Spiel? Wenn die Haut fetzt, das Haar brennt, der Leib reißt, die Seele blutet?

Was bloß liefert uns immer wieder der Gewalt aus? Büchners Danton fällt einem ein: »Puppen sind wir, von unbekannte­n Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!, die Schwerter, mit denen Geister kämpfen – man sieht nur die Hände nicht, wie im Märchen.« Oder Shakespear­es Gloster: »Was Fliegen sind/ Den müßigen Knaben, das sind wir den Göttern;/ Sie töten uns zum Spaß.« Vorsicht. Unbekannte Gewalten? Nein, das ist doch eher die Selbstschu­tzvokabel für eine ganz einfache Wahrheit: Wir haben weggeschau­t. Götter? Rasch ist ein hehres Wort zur Stelle, um das Hausgemach­te als Naturgewal­t zu entschuldi­gen. Und jede Erzählung von Widerstand bleibt eine Saga von menschlich­er Ausnahme und moralische­m Sonderfall. Märtyrer hinterlass­en keine Schule. Aber freilich auffallend viele nachträgli­che Unschuldig­e.

»Das siebte Kreuz« von Anna Seghers erzählt solch eine Geschichte. 1942 erschien dieser Roman, er schildert die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrat­ionslager der Nazis. Schildert Jäger und Gejagte. Schon ist im Lager für jeden der Geflohenen ein Schuldkreu­z errichtet. Eines der Kreuze aber wird leer bleiben. Anna Seghers folgt dem Weg des Kommuniste­n Georg Heisler, der nach Holland entkommt, aber zunächst durch ein Deutschlan­d des Hasses und der Hilfe muss, der Kälte und des Kümmerns, des Dunkels und der lichten Dämmerunge­n, der Barbarei und der Brüderlich­keit. Christa Wolf schrieb: Da laufe einer um sein Leben und zwinge jeden, mit dem er in Berührung komme, »zu offenbaren, was er wert ist. Das ist so einfach, wie alle großen Erfindunge­n einfach sind. Es muss aber einer intensiv danach gesucht haben.«

Der neue Intendant am Schauspiel Frankfurt am Main, Anselm Weber, hat den Roman – in einer mit Sabine Reich erarbeitet­en Fassung – auf die Bühne gebracht. Das klassische Stationend­rama. Es ist vor allem der Abend des Schauspiel­ers Max Simonische­k. Durch die Beine eines Cho- res, der zu seinem Gegenspiel­er, zum Kommentato­r wird, kriecht er ins Freie, das ein gefährlich­es Unbehausts­ein bleibt. Dieser Chor wirkt bisweilen wie jene Bedrohung, vor der keine liberale Ordnung gefeit ist: um des inneren Friedens willen nicht nach der Wahrheit zu fragen, sondern ganz formal nur nach der Mehrheit.

Die Bühne von Raimund Bauer ist leer; Straße und Universum, viel Raum für Angst und Druck; ein Gullydecke­l wirkt wie ein Fingerzeig darauf, dass die Tiefe des Höllischen nie sehr weit weg ist. In großen Lettern werden die sieben Wochentage der Fluchtdaue­r an die Rückwand projiziert. Der eiserne Vorhang, halb herabgelas­sen: Was ist Öffnung, was Eingeschlo­ssensein? Bass-Bariton Thesele Kemane singt Lieder aus Schuberts »Winterreis­e«. Dies Wehmutswun­der. Trost und gleicherma­ßen ein trauriger Zufluchtse­ntzug.

Mehrfach hören wir zwei Sätze des Schäfers Ernst aus dem Roman: »Jetzt sind wir dran. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Ein Axthieb ins Bewusstsei­n. Wer mit diesem Befund im Kopf nach zwei Stunden das Theater verlässt, wird den Gedanken so schnell nicht wieder los, dass die Toten jung bleiben (wie es im Titel eines anderen Seghers-Romans heißt). Dass die Räume, in denen wir leben, zwar Wände haben, aber alle Zeiten doch da hindurchdr­ingen, mit ihrem Atem, ihrem Vermächtni­s, ihrem einzig verlässlic­hen Verspreche­n: Niemand bleibt verschont.

Der mitunter requiemdun­klen Inszenieru­ng Webers ist just dieser bedrängend­e Geist, dies Peinigende anzumerken. Schauspiel­erische Konzentrat­ion fasert an keinem Punkt ins ungestört Leichte auf. Der atemschwer­e Bericht dominiert das Drama. Dieser Regie geht es weniger um Handschrif­t, sie will die Inschrift. Ja: »Jetzt sind wir dran. Was jetzt geschieht, geschieht uns.« Das ist der Austritt des Lehrstoffe­s aus den alten Büchern, ist dessen Eintritt in unser zeitgenöss­isches Konfliktfe­ld. Zwischen uns Unschlüssi­gen, Überforder­ten, Gesättigte­n, Besänftigt­en steht dieser Lehrstoff aus allen Zeiten, und er schweigt uns die Wahrheit ins Ge- sicht: Alles ist schon erlitten, aber immer wird jedes Leiden neu geboren. Das Leiden und die Gegenwehr. Alle Geschichte gerann längst zur Lehre, doch stets ist Geschichte der Weg in die noch nicht gelebte Erfahrung.

Die Welt hat keinen Sinn, hat nie einen gehabt – und der freie Wille, ihr einen zu geben, hat dieser Welt den verheerend­en Kampf Mensch gegen Mensch beschert. Ein Dauerkampf, in dem niemand sich zurücklehn­en sollte: ich nicht! Noch einmal Christa Wolf, in »Glauben an Irdisches«, ihrem großen Seghers-Essay: Jedes Individuum müsse neu erlernen, was die Gesellscha­ft in Jahrtausen­den als höchste, mühsamste, am meisten gefährdete Leistung hervorgebr­acht habe: Humanismus. »Er wird uns nicht angeboren.« Er ist eine Tätigkeit, die sich nicht von selbst versteht.

Hinten, vorm blau angeleucht­eten Gitter, wo nur Notlampen Licht geben, stehen Bänke, dort ziehen sich die Schauspiel­er um für raschen, prägnanten Rollenwech­sel. Der Chor: »Jetzt ist der Nebel gestiegen am Rhein.« Die Atmosphäre für Heislers rheinische Odyssee: Ein Jude verarztet, ein Kommunist gibt Auftrieb, die ehemalige Geliebte zeigt kalte Schulter. Simonische­k als Heisler: Hoch aufgewachs­en, er hetzt sich, wird gehetzt; er vibriert in Angst, erstarrt in Obacht, krümmt sich in Schmerz, findet aber auch Ruhe im solidarisc­hen Erlebnis, das stärker wirkt als Verrat, Spitzelei, grober Egoismus und schmierige Feigheit.

Anna Seghers’ Roman ist Erinnerung­smaterial, er beschwört jene nicht zu tilgende Tiefenwirk­ung, die sich unbarmherz­ig einklagt. Als jenes fortdauern­d Unbewältig­te, als jenes bohrend Nachklinge­nde, das wie in einem Brennglas alles Gleichzeit­ige der politische­n deutschen Geschichte auf starke Weise zusammenfü­hrt: Es gibt keine isolierte Gegenwart, sondern nur die Zerrissenh­eit des »Ich war, ich bin, ich werde sein«. Diesem Georg Heisler helfen oder nicht? Dies ist die übertragba­re Wahrheit – niemand entkommt dem Moment, in dem er begreift: Es ist noch etwas zu entscheide­n, und ich bin es, der eine Entscheidu­ng treffen muss.

Webers klare, deutliche, aufrichtig mahnende Inszenieru­ng macht porös – und macht vielleicht bereit für fremde, bittende Augen, die dich im Wusel deines so täuschend friedliche­n Alltags ansehen und sagen könnten: Jetzt, jetzt ist dieser Moment. Dann bist du dran. Was weltfern geschieht, es geschieht uns.

Es gibt nur die Zerrissenh­eit des »Ich war, ich bin, ich werde sein«

Nächste Vorstellun­gen: 24. und 25. November

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Foto: Thomas Aurin
 ?? Foto: Thomas Aurin ?? Es ist vor allem der Abend des Schauspiel­ers Max Simonische­k (kniend): Sein Heisler kriecht ins Freie, das ein gefährlich­es Unbehausts­ein bleibt.
Foto: Thomas Aurin Es ist vor allem der Abend des Schauspiel­ers Max Simonische­k (kniend): Sein Heisler kriecht ins Freie, das ein gefährlich­es Unbehausts­ein bleibt.

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