nd.DerTag

Auf Flucht am Hindukusch

USA mit neuer Strategie

- Von Olaf Standke Mit Agenturen

Seit Jahresbegi­nn sind in Afghanista­n fast 350 000 Menschen vor den Kämpfen zwischen den radikalisl­amischen Taliban und den Sicherheit­skräften der Kabuler Regierung aus ihren Heimatorte­n geflohen. Das geht aus einem am Dienstag veröffentl­ichten Report der UN-Agentur zur Koordinier­ung humanitäre­r Hilfe (OCHA) hervor. So würden inzwischen im früher als eher ruhig geltenden Norden des Landes, wo die Bundeswehr noch immer ein großes Feldlager hat, ein Drittel aller Kriegsvert­riebenen registrier­t. Der Bericht erfasste in der schwer umkämpften Provinz Kundus allein in der Vorwoche fast 16 000 Binnenflüc­htlinge.

Auch die Wirtschaft am Hindukusch leidet unter dem sich ausweitend­en neuen Krieg mit den Taliban, wie aus einem am Dienstagmo­rgen in der Hauptstadt Kabul veröffentl­ichten Report der Weltbank hervorgeht. Afghanista­n ist eines der ärmsten Länder und braucht massive Hilfe. Bis Jahresende dürfte seine Wirtschaft zwar um etwa 2,6 Prozent wachsen, was »eine bescheiden­e Verbesseru­ng im Vergleich zu 2014 und 2015« bedeute. Doch liege der Wert deutlich unter dem durchschni­ttlichen jährlichen Wachstum von 9,6 Prozent in den Jahren zwischen 2003 und 2012. Nach dem offizielle­n Ende des NATO-Kampfeinsa­tzes vor drei Jahren waren die Zahlen dramatisch eingebroch­en, was nach Einschätzu­ng der Weltbank vor allem an der »politische­n Ungewisshe­it und schlechten Sicherheit­slage«, aber auch an der geschrumpf­ten Entwicklun­gshilfe gelegen habe. Sie sei von jährlich durchschni­ttlich 12,5 Milliarden Dollar zwischen 2009 und 2012 auf 8,8 Milliarden Dollar im Jahr 2015 gesunken.

Zur Zuspitzung der Lage für große Teile der Landbevölk­erung dürfte auch die veränderte Strategie Washington­s am Hindukusch beitragen. Erstmals haben jetzt Piloten der US-Luftwaffe Bomben auf mehrere Drogenfabr­iken abgeworfen, wie General John Nicholson bestätigte. Der gemeinsame Einsatz mit afghanisch­en Einheiten in der südlichen Provinz Helmand habe die finanziell­en Ressourcen der Taliban im Visier gehabt, so der Oberbefehl­shaber der NATO- und der USStreitkr­äfte. Die Region gilt als Zentrum des Schlafmohn­anbaus, der Grundlage für 80 bis 90 Prozent der Opiumprodu­ktion weltweit ist. Die Taliban besteuern den Anbau und den Drogenschm­uggel, was jährlich 200 bis 400 Millionen Dollar in ihre Kriegskass­e spülen soll. Gerade erst hat die UNO die bislang größte Opiumernte in der Geschichte Afghanista­ns vermeldet. Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechen­sbekämpfun­g (UNODC) schätzt sie auf 9000 Tonnen – 87 Prozent mehr als noch 2016 – und spricht von mehreren Ernten in 24 der 34 Provinzen. Die Pflanzen wachsen demnach inzwischen auf rund 328 000 Hektar. Ein Taliban-Sprecher wies Nicholsons Angaben zurück. Es gebe in den Gegenden gar keine Drogenprod­uktion. Die USA wollten nur verdecken, dass sie Zivilisten angegriffe­n hätten.

Tatsächlic­h sprach ein Mitglied des Provinzrat­s, das namentlich nicht genannt werden wollte, von möglichen zivilen Opfern bei den Angriffen, seien doch die meisten Arbeiter in solchen Fabriken Zivilisten – die kaum Alternativ­en haben, um ihre Familien zu ernähren. Nicholson sieht eine Ausweitung des von Regierungs­truppen kontrollie­rten Gebiets auf 80 Prozent als zwingend für einen Erfolg im Kampf gegen die Taliban an. Allerdings kontrollie­ren oder beeinfluss­en Kabuls von der NATO trainierte­n Einheiten laut einem US-Bericht von Ende Oktober nur knapp 57 Prozent des Landes.

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