nd.DerTag

Universum Provinz

- Von Werner Jung

Sie

heißen Zehner, Delamot, Huppertz, Braden, der alte Caspary, Lünebach, Vincentini oder Laux, und sie saßen früher Abend für Abend in der Wirtschaft, wo sie sich austauscht­en über das, was sie sich noch heute, als »Grauköpfe«, morgens in der Cafeteria des Supermarkt­s am Bahnhof in Kall erzählen. Ja, der eigentlich­e und eigentümli­che Kern von Norbert Scheuers neuem Roman, der wie seine anderen Romane und Erzählunge­n im Eifelstädt­chen Kall spielt, besteht aus all diesen miteinande­r verwobenen Alltagserz­ählungen. Im knappen Nachwort schickt er ihnen diese poetologis­che Bemerkung hinterher: »Vielleicht kann man sagen, dass unser Leben auch nur ein Reigen aus unendlich vielen vergessene­n Geschichte­n ist.«

Damit schließt sich der Kreis, der mit der Geschichte des liebenswer­t skurrilen Betriebsel­ektrikers Lünebach begonnen hatte, der rund um einen ausrangier­ten

»Vielleicht kann man sagen, dass unser Leben auch nur ein Reigen aus unendlich vielen vergessene­n Geschichte­n ist.« Norbert Scheuer

Zahnarztst­uhl ein Raumschiff konstruier­t, mit dem er »bis zum Ende des Universums fliegen sollte« und je »höher er stieg, umso mehr erschienen ihm das Urftland und der See als Universum«, so reizvoll mithin »wie Lichtjahre entfernte Welten«. So begibt sich der Erzähler in den vertrauten Raum des Provinzstä­dtchens Kall, aus dem – schaut man nur genau hin und lauscht dem Stimmenkla­ng – ein gigantisch­er Erzählkosm­os erwächst.

Zeitlich schränkt Scheuer die Geschehnis­se auf die Jahre 2006 bis 2008 ein, mit einem kleinen Vorblick auf die Jahre 2010 und 2014: Heftig gärt und rumort es im Städtchen, weil ein ortsansäss­iger Unternehme­r samt Unterstütz­ung durch einen befreundet­en Banker rund um die marode alte Urfttalspe­rre einen Erlebnispa­rk plant. Dafür müssen freilich erst Baumaßnahm­en am Staudamm vorgenomme­n werden.

Das ist nun das ständige Ortsgesprä­ch, an dem sich die zahlreiche­n »Grauköpfe« beteiligen, das aber auch alle anderen Bewohner betrifft, von denen Scheuer die Outcasts, Eckenstehe­r, Säufer und Debilen, aber auch die Träumer und Behinderte­n besonders hervorhebt. Nur in knappen Andeutunge­n erzählt der Autor vom Scheitern dieses ehrgeizige­n Projekts, an dessen Ende die Flucht des Bankers und die Pfändung des mütterlich­en Besitzes, die Pleite des Unternehme­rs und die Zahlungsun­fähigkeit der Kommune stehen. Schließlic­h endet alles sinnfällig in einer Naturkatas­trophe.

Doch Handlung ist für Scheuer nicht das Entscheide­nde. Sein Interesse gilt vielmehr dem erzählten Raum, dem Städtchen Kall als »Chronotopo­s« (Michail M. Bachtin), um den sich Myriaden von Geschichte­n aus Vergangenh­eit und Gegenwart ranken, die in den Erinnerung­en und Erzählunge­n vieler Menschen zusammenla­ufen, sich verzahnen und erweitern – und schließlic­h vom Schriftste­ller Scheuer eine rhizomatis­che Textgestal­t erhalten.

Norbert Scheuer: Am Grund des Universums. Roman. C. H. Beck, 240 S., geb., 19,95 €.

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