Mörderischer Mikrokosmos
Im Kino: »Detroit« von Kathryn Bigelow ist ein höchst intensives Rassismus-Drama
Kathryn Bigelows fast schmerzhaft verdichtetes Rassismusdrama »Detroit« führt den Zuschauer gleich mitten hinein in den afroamerikanischen Aufstand in jener US-Metropole im Jahre 1967. Ansatz- und ziellos taucht der Film in das chaotische Schlachtengetümmel, folgt scheinbar willkürlich mal diesem Plünderer oder zeigt kurz mal jene überreagierende Polizeigruppe – ohne persönliche Verbindungen zwischen den Zuschauern und den Handelnden auf der Leinwand herzustellen. So wird gleich zu Beginn meisterhaft eine große Verlorenheit hergestellt, ein undurchdringliches Dickicht aus Lärm, Feuer, splitterndem Glas und niedersausenden Polizeiknüppeln. Der Aufstand als unentrinnbares Labyrinth. Rette sich wer kann!
Wer allerdings als Afroamerikaner (auch als Unbeteiligter) das Pech hatte, in jenen aufgeputschten Julitagen nach der Ausgangssperre noch die Innenstadt durchqueren zu müssen, wurde – wie die später im Film porträtierte Gruppe junger schwarzer Zufallsbekannter – automatisch zum Freiwild für eine panisch überreagierende und in gruseligen Denkmustern gefangenen Ordnungsmacht: Nach jahrzehntelangem Hinhalten und zahllosen gebrochenen Versprechen durch die Stadtverwaltung explodierte die Wut in Detroits schwarz dominierter Innenstadt – und 10 000 Soldaten versuchten mit großer Brutalität, die Aufstände, Plünderungen und Sniperangriffe niederzuschlagen.
Nach einem aufwühlenden, aber unpersönlichen ersten Drittel ändert der Film – formal bemerkenswert – radikal seinen Blickwinkel: Das ur- bane Gewaltpanoptikum wandelt sich zu einem quälenden Kammerspiel, in dem fast in Echtzeit das Martyrium jener Gruppe von Schwarzen geschildert wird, die zufällig einer sadistischen Polizeigruppe in die Hände fallen. Dieser authentische »Algiers Hotel Incident« lässt keinen der Beteiligten unbeschadet zurück – und garantiert keinen Kinobesucher unberührt.
Das direkte Hineinwerfen in die totale Aktion ist ein wirkungsvoller Kunstgriff, um den Zuschauer die Angst der Protagonisten schmecken zu lassen – und zwar die der Polizisten ebenso wie die der Aufständischen. Aber: Die Motivation für den Auf- stand, der letzte Tropfen, der das prall gefüllte Fass zum Überlaufen bringt, erscheint in Bigelows Darstellung merkwürdig unspektakulär und dadurch ungeeignet, um alleine die folgende Explosion der blinden und ziellosen Gewalt, der Raubzüge und der Zerstörung des eigenen Viertels zu erklären und zu rechtfertigen.
Denn der letztendliche Auslöser der Unruhen war kein öffentlicher sadistischer Akt wie die kollektive Misshandlung von Rodney King durch Polizisten, die 1991 durch schockierende Kameraaufnahmen weltberühmt wurde, was (nach skandalösem Freispruch für die Schläger) die Los An- geles Riots auslöste. Es war auch keine jener Exekutionen in Uniform an Afroamerikanern, wie sie in den letzten Jahren in schockierender Regelmäßigkeit und fast live im Internet zu sehen waren – ein Medien- und Gewaltphänomen, das die machtvolle aktuelle »Black Lives Matter«-Bewegung befeuerte. Im Detroit des Jahres 1967 »reichte« (laut Darstellung im Film) eine rüpelhafte Razzia in einem illegalen Tanzlokal mit einigen ungerechtfertigten Verhaftungen, um einen in Jahrzehnten angestauten Druck schlagartig und in zerstörerischen Schockwellen entweichen zu lassen.
Bigelow skizziert als Prolog den größeren Hintergrund, die generationenübergreifende Vorgeschichte der Eruption von 1967 – in einer ungewöhnlichen Form: Sie montiert gemalte Werke der »Migration Series« des afroamerikanischen Künstlers Jacob Lawrence zu einem historischen Abriss der Detroiter Innenstadt: Die Ankunft der Afroamerikaner in der Stadt nach dem Ende der Sklaverei und die sich anschließende Migration der Weißen: aus der Innenstadt in die Vororte, was schlimme Verarmung im Zentrum nach sich zog. Die Innenstadt wurde zum überbelegten und bewachten afroamerikanischen Ghetto, das kaum ein Schwarzer je verließ. Diese Einführung ist löblich und ästhetisch ansprechend, im Vergleich zum folgenden extrem intensiven Drama jedoch blass und brav. Die hier fehlende Drastik macht ein Nachvollziehen der folgenden drastischen Gewalt nicht einfacher.
In der dritten Nacht der Unruhen stürmten Polizisten das vor allem von Afroamerikanern bewohnte Algiers Hotel, weil sie darin einen Scharfschützen vermuteten. Einer der Hotelgäste wird getötet – durch Polizeischüsse in den Rücken. Um diese Tat zu rechtfertigen, muss die Polizei nun mit aller Gewalt eine Waffe bei den verbliebenen »Verdächtigen« finden. Unter der immer mehr in fahrigen Wahnsinn abgleitenden Führung des weißen Polizisten Philip Krauss (Will Poulter) gerät die auch für die Zuschauer schier unerträgliche Situation immer weiter außer Kontrolle.
»Detroit« ist von allen Beteiligten (neben Poulter unter anderem John Boyega und Algee Smith) kraftvoll gespielt und wurde von Bigelow in gewohnter technischer Perfektion auf Zelluloid gebannt. Die Regisseurin, die nach »Zero Dark Thirty« zu Recht Vorwürfe der Folter-Verherrlichung ertragen musste, mag umstritten sein – dass sie atemlose Hochglanz-Action produzieren kann, ist Konsens. Für »Detroit« tat sich Bigelow wieder mit dem Reporter und ihrem Leib-Drehbuchautor Mark Boal zusammen.
Ästhetisch verfolgt »Detroit« einen pseudo-dokumentarischen CinémaVérité-Ansatz, für dessen volle Entfaltung Bigelow, ihr Kameramann Barry Ackroyd und der für den Schnitt verantwortliche Billy Goldenberg auch Archivaufnahmen in den Film einwebten. Für den authentischen Hintergrund interviewten Boal und sein Recherche-Team laut Produktionsnotizen Dutzende Beteiligte, die damals in Detroit vor Ort waren, von schwarzen Anwohnern bis hin zu Polizisten und Armeeangehörigen.
»Detroit« ist in seiner Direktheit fast schon eine körperliche Erfahrung, in dieser Hinsicht ist der Film ein drastisches Meisterwerk. Aber reicht die quälende Darstellung eines Mikrokosmos, etwa um Entscheidendes zum aktuellen und allgemeinen Thema Rassismus beizusteuern? Unter anderem der »Hollywood Reporter« findet: nein – es sei »eine grimmige Erzählung ohne Katharsis.«
»Detroit« ist in seiner Direktheit fast schon eine körperliche Erfahrung – in dieser Hinsicht ist der Film ein drastisches Meisterwerk.
»Ich habe bestimmt keine Rassen-, Standes- oder religiösen Vorurteile. Es genügt für mich, zu wissen, jemand ist ein Mensch – schlimmer kann er nicht sein.«
Mark Twain