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Was heißt das: »Deutschsei­n«?

Maxi Obexer hat ihre Gedanken zum Thema Flucht und Einwanderu­ng in einen autobiogra­fischen Romanessay gefasst

- Von Maria Jordan

Eine Frau sitzt im Zug, auf dem Weg nach Berlin, wo sie Jahrzehnte nach ihrer Auswanderu­ng und unzähligen Anträgen und Formularen endlich ihren deutschen Pass in Empfang nehmen will. Im Zug bemerkt sie eine Gruppe junger Geflüchtet­er, die versuchen, nach Deutschlan­d zu gelangen.

Die Frau kommt aus Italien, genauer gesagt, aus Südtirol. Auf ihrer letzten Reise als Italieneri­n, bevor sie offiziell deutsche Staatsbürg­erin wird, lässt sie ihre Einwanderu­ngsgeschic­hte Revue passieren: Als junge Frau entschloss sie sich, ihre Heimat zu verlassen und nach Berlin zu gehen. Sie studiert an der Universitä­t, wird schließlic­h Regieassis­tentin beim Theater. Sie vermisst ihren Hund, den sie bei den Eltern zurücklass­en musste. Sie spürt die Nachbeben der Wende, sie passt für ihre Freunde in keine richtige Schublade. Statt als Ossi oder Wessi bezeichnet man sie als »Südin«. Sie wird Teil des feministis­chen »Gender-Cafés«, glaubt nicht an Wittgenste­ins Sprachtheo­rie und liebt Frauen.

Der erzähleris­che Teil von Maxi Obexers Romanessay ist sprunghaft, lose Erzählfäde­n werden aufgenom- men und wieder fallen gelassen. Personen verschwind­en so schnell, wie sie auftauchen – ohne Vorstellun­g, ohne Abgang. Mal ist es eine Liebschaft, die über eine oder zwei Seiten geschilder­t wird, mal tauchen andere Ein- beziehungs­weise Auswan- derer auf, die die Protagonis­tin in Berlin trifft und mit denen sie über das Fremdsein und ihre Erfahrunge­n in der Wahlheimat spricht.

Die Geflüchtet­en im Zug tauchen immer kurz auf, um an den Kontext zu erinnern, in dem der argumentat­ive Teil des Romanessay­s steht: Europa heute – mit offenen Grenzen und doch wie eine Festung. Jedoch lebt die Geschichte der Geflüchtet­en nur von Beobachtun­gen aus der Ferne: Sie steigen ein, schlafen, werden irgendwann von Grenzpoliz­isten aus dem Zug geholt. Was mit ihnen passiert, woher sie kommen und wohin sie wollen – diese Fragen bleiben offen.

Ihr eigenes Schicksal – das Buch ist autobiogra­fisch – und das der Geflüchtet­en nimmt Obexer als Anlass, ihre Gedanken über das heutige Europa aufzuschre­iben. Anhand ihrer Geschichte beschreibt sie das bürokratis­che Labyrinth, das die eigentlich so unkomplizi­ert angedachte innereurop­äische Migration tatsäch- lich ist. Es geht um das »Deutschsei­n«, Obexer fragt sich: Was ändert eigentlich ein deutscher Pass? Als Deutsche wird sie dennoch nicht gesehen, nicht einmal – oder ganz besonders nicht – von ihrem eigenen Umfeld. Sie hinterfrag­t die Bedeutung des Nationalst­aats in einem Konstrukt offener Grenzen. Und sucht die Antwort auf die Frage, wie ein »freies Europa« eigentlich aussehen könnte.

Der autobiogra­fische Teil des Essays und die Fragen zu Migration, Integratio­n und Nationalit­ät, die Obexer in diesem Zusammenha­ng aufwirft, sind spannend. Doch hätte sie, bei einer Textlänge von ohnehin nur rund 100 Seiten, vielleicht dabei bleiben und den Teil stärker ausarbeite­n sollen.

Denn der Sprung zur europäisch­en Flüchtling­spolitik seit 2015 und die Verknüpfun­g ihrer persönlich­en Einwanderu­ngsgeschic­hte mit der mutmaßlich syrischer Flüchtling­e scheint erzwungen. Flucht ist nicht gleichzuse­tzen mit Einwanderu­ng. Und auch wenn es, besonders was den Einbürgeru­ngsprozess angeht, Parallelen gibt, so bleibt der argumentat­ive Zusammenha­ng bei Obexer etwas dünn. Stattdesse­n bekommt man das Gefühl, die Autorin wollte die Fluchtprob­lematik unbedingt noch in ihrem Roman unterkrieg­en. Die Überlegung­en und Verbesseru­ngsvorschl­äge zur Flüchtling­spolitik sind nicht grundlegen­d falsch, bleiben aber oberflächl­ich. Es sind Ideen, die schon vielfach geäußert und gehört wurden. Und so verschenkt Obexer das Potenzial ihres Romanessay­s, indem sie zu viel auf einmal will. Sie wechselt vom Besonderen, nämlich ihrer eigenen Geschichte, ins Beliebige: ihre allgemeine­n Gedanken zum Thema Flucht.

Europa heute – mit offenen Grenzen und doch wie eine Festung.

Maxi Obexer: Europas längster Sommer. Roman. Verbrecher-Verlag, 112 S., geb., 19 €.

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