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Siehe, er kann sprechen!

Jens Wonneberge­r erweist sich einmal mehr als Meister des literarisc­hen Kammerspie­ls

- Von Michael Hametner

Den Mann, dem wir in diesem Buch wiederbege­gnen, hatte Jens Wonneberge­r bereits in seinem Roman »Goethealle­e« (2014) zur Hauptfigur gemacht: einen Schriftste­ller, bei dem es mit dem Schreiben klemmt. Seine Frau Sabine – erfolgreic­he Fallmanage­rin im Jobcenter – weiß, wo es langgehen müsste: Die Geschichte­n, sagt sie, liegen doch auf der Straße. Aber sie hilft ihrem Mann damit nicht. Dessen Niedergesc­hlagenheit legt sich auf die Ehe. Um ihre Beziehung zu retten, lässt sich Sabine eine gemeinsame Reise nach Italien einfallen – auf den Spuren Goethes. An Bord des Busses ist auch die örtliche Buchhändle­rin, die nie ein Buch von Sabines Mann vorrätig hatte. Just im Moment des Grenzübert­ritts nach Tirol, an einer Raststätte, steigt der Mann nicht wieder ein und beginnt eine planlose Flucht. Vielleicht ist es auch die berühmte Wanderung zu sich selbst.

Hier endet der Roman, und hier setzt der neue ein. Das Erste, was der Mann nach seiner Flucht in die Berge sieht, erfahren wir in »Sprich oder stirb«, ist die markierte Unglücksst­elle eines Bauern, der hier vor über 150 Jahren abgestürzt war. Darin folgt ihm der Flüchtende und liegt im ersten Kapitel auf dem Operations­tisch. Sein Kopf ist geöffnet, man operiert an seinem Gehirn, und er muss ständig reden, damit der Operateur weiß, dass er seine Schnitte richtig setzt. »Und dann«, spricht der Mann, »ist die Müdigkeit ein riesiges Tier und ich würde mich ihm gern ergeben. Doch wieder ist da die Stimme des Chirurgen, die, nun noch eindringli­cher, fordert, dass ich reden soll. Da begreife ich, dass es um mein Leben geht, ich nun um mein Leben reden soll.«

Er spricht unaufhörli­ch – erst an Professor Ostermann gerichtet, dann an Schwester Krystyna, dann an sich selbst. Er spricht von der Liebe zu seiner Urgroßmutt­er und von deren Liebe zu ihm. Er spricht von seiner Furcht davor, dass seine Frau ihn nicht liebt, sondern eine Affäre mit dem Hausmeiste­r hat. Er spricht und spricht. Es ist wie in 1001 Nacht: Wenn seine Geschichte­n versiegen, stirbt er.

Zutage kommt eine Figur, die ein Verwandter der Figurenwel­t von Wilhelm Genazino ist: glücklos vergraben ins Glück. Sein Leben rückt uns so nahe, dass wir dem Unglücklic­hen jedes Glück wünschen. Just wenn wir als Leser sagen: Möge seine Flucht vor Frau und Schreibtis­ch doch die Erfüllung bringen, erinnern wir uns aber wieder an den Romananfan­g und wissen, der Absturz kommt gleich: »An mir zog nur die Luft vorbei. Bei mir war es nur ein Rauschen. Der Wind war eine blitzende Klinge aus Stahl. Dann schlug ich auf. Ein Geräusch, als wär’s ein nasser Sack. Dann Stille. War denn mein Leben nichts?«

Auch in diesem Roman – seinem siebten – zeigt sich, dass der 1960 im sächsische­n Ohorn geborene, heute in Dresden lebende Autor die dramatisch­e Handlung nicht braucht. Jens Wonneberge­r ist ein Meister des Kammerspie­ls. Noch für die kleinsten Details findet er eine mühelose, leichte Sprache. Alles fügt sich inwendig und nach außen zu einem kleinen Leben, das gelebt werden will und es jederzeit verdient. Wäre die polnische Schwester Krystyna nicht dem dicken Professor Ostermann auf den Leim gegangen und von ihm schwanger, wer weiß, vielleicht hätte er sie gegen seine an Gefühlen arme Sabine eintausche­n können. So aber freut er sich am Ende doch, dass Sabine ihn aus dem Krankenhau­s abholen kommt.

Wonneberge­r hat gut daran getan, die Hauptfigur aus »Goethealle­e« noch einen weiteren Roman lang zu begleiten – für eine Huldigung des Erzählens als Rettung vor dem Tod. »Sprich oder stirb«: ein Kammerspie­l zwar, aber mit großem Anspruch.

Jens Wonneberge­r: Sprich oder stirb. Roman. Verlag Müry Salzmann, 175 S., geb., 19 €.

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