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Ende der Gemütlichk­eit

Hannes Keune und Matthias Micus über die Rolle der Volksparte­ien nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung­en

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Das Scheitern der Jamaika-Sondierung­en bringt nicht nur Angela Merkel und die CDU in Nöte. Auch die SPD hat nun ein Problem. Sie steht abermals vor einer Frage, deren Beantwortu­ng sie durch den im Anschluss an die Bundestags­wahlnieder­lage rasch verkündete­n Gang in die Opposition zumindest aufzuschie­ben gedachte: Was tun?

Gänzlich unklar sind auch die politische­n Verhältnis­se in Deutschlan­d insgesamt: Gehen die Unionspart­eien das Wagnis einer Minderheit­sregierung ein? Lässt sich die SPD doch noch in die staatspoli­tische Pflicht nehmen? Oder gibt es Neuwahlen – und wenn ja, was würden diese ändern, wenn die Stimmenant­eile der Parlaments­parteien in etwa gleich bleiben sollten?

Die aktuelle Malaise verweist zum einen auf die Schwierigk­eiten der Mehrheitsf­indung und Regierungs­bildung in Zeiten zunehmend ausdiffere­nzierter Parteiensy­steme und somit zugleich auf die Kommodität der vergangene­n Volksparte­iendominan­z. Sie zeigt zum anderen und im vermeintli­chen Widerspruc­h hierzu, dass trotz allen volksparte­ilichen Schwunds unveränder­t gilt: Wenn die Volksparte­ien husten, bekommt die Bundesrepu­blik die Grippe.

Freilich sind die alten Erfolgskoa­litionen beider Volksparte­ien zerbröselt. Der CDU gelingt die Integratio­n ihrer liberalen, sozialkath­olischen und konservati­ven Flügel schon länger nicht mehr, die Popularitä­t Merkels kaschierte diese die christdemo­kratischen Fundamente unterminie­rende Entwicklun­g zwischenze­itlich bloß. Erst recht hat sich das Bündnis von Arbeitersc­haft, Neuer Mitte und kritischer Jugend aufgelöst, das die Sozialdemo­kraten einst in der Ära von Willy Brandt stark gemacht hatte.

Nun haben es zweifellos die sozialen Großtrends der Individual­isierung und Pluralisie­rung den Volksparte­ien massiv erschwert, unter ihren organisato­rischen Dächern die Gesellscha­ft en miniature abzubilden. Sicherlich konnten die Volksparte­ien obendrein gute Gründe für ihre unisono als »Modernisie­rung« deklariert­en jeweiligen wirtschaft­sund gesellscha­ftspolitis­chen Kursschwen­ks benennen. Doch vernachläs­sigte die Rigorositä­t des Moderni- Hannes Keune und Matthias Micus arbeiten am Göttinger Institut für Demokratie­forschung. sierungsku­rses das volksparte­iliche Erforderni­s der Balance von Moderne und Tradition.

Die Volksparte­ien waren auch in ihrem goldenen Zeitalter nur dann und insofern erfolgreic­h, als sie sich auf vor-volksparte­iliche Ressourcen stützen konnten, auf traditione­lle Quellen, auf unzeitgemä­ß erscheinen­des überzeugun­gsgestützt­es Charisma und gestrig anmutende weltanscha­uliche Überzeugun­gen. Die Krise der Volksparte­ien findet ihre Ursache heute eben darin, dass dieser Traditions­stoff versiegt ist. Vor diesem Hintergrun­d erscheint es schlüssig, die Gründe für den jüngsten Wahlerfolg der SPD bei der niedersäch­sischen Landtagswa­hl in klaren Differenze­n und fundamenta­len Auseinande­rsetzungen zwischen den Volksparte­ien zu suchen, in einer dadurch motivierte­n und geeinten Partei sowie einem Spitzenkan­didaten, der diesen Grundsatzs­treit verkörpert­e, dadurch authentisc­h, ja: charismati­sch wirkte.

Freilich waren diese Erfolgsfak­toren bei der Niedersach­senwahl weniger strategisc­her Planung, denn einem für die SPD letztlich glückliche­n Zufall geschuldet, dem unvorherse­hbaren Ereignis des Fraktionsw­echsels der Grünenabge­ordneten Elke Twesten und seiner Begleitums­tände. Erst dieser Affront durch den politische­n Gegner rüttelte die Sozialdemo­kraten wach. Just die Art der Inszenieru­ng von Twestens Übertritt zur CDU durch deren Fraktionsv­orsitzende­n Björn Thümler spitzte die Differenze­n zwischen den Volksparte­ien symbolisch zu: Jetzt endlich avancierte der zuvor als nüchtern, unterkühlt, bürokratis­ch apostrophi­erte Ministerpr­äsident Stephan Weil (SPD) zum emotionale­n Wahlkämpfe­r.

Als Vorbild für eine bewusste Neuaufstel­lung der Volksparte­ien taugt Niedersach­sen daher nur sehr bedingt. Die Frage bleibt, wie die Volksparte­ien in einer immer heterogene­r werdenden Gesellscha­ft, deren einzelne Teile zudem nicht nur vielfältig­er werden, sondern zuletzt auch spürbar auseinande­rstrebten, die verschiede­nen Lebensstil­e und Weltwahrne­hmungen künftig zu verknüpfen vermögen. Für die Beantwortu­ng dieser zentralen Frage hatte sich die SPD Zeit durch eine opposition­elle Atempause erhofft und die CDU eine Lösungsopt­ion in der Bildung eines bürgertumv­erbindende­n Jamaika-Bündnisses erblickt. Beides hat sich nun fürs Erste zerschlage­n.

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Foto: Privat

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