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Hören wie der Mond aufgeht

Der renommiert­e Thüringer Märchen- und Sagenpreis »Ludwig Bechstein« geht in diesem Jahr an die Erzählerin Nazli Çevik Azazi

- Von Doris Weilandt

Das südthüring­ische Meinigen vergibt seit 2001 den Ludwig-Bechstein-Preis, der Märchensam­mler wirkte einst viele Jahre in der Stadt. In diesem Jahr geht der Preis an eine junge Frau – Nazli Çevik. Wenn sie den Raum betritt, braucht es nur wenige Minuten, bis Kinder und Erwachsene die Realität vergessen und mit ihr in Welten eintauchen, die von wunderbare­n Wesen bevölkert sind. Jeder hält den Atem an, wenn Nazli Çevik einen Weg beschreibt, der durch Wälder führt oder über orientalis­che Basare, von denen ein verführeri­scher Duft aufsteigt. Anschaulic­h lässt sie ihr Publikum miterleben, was in der Geschichte passiert. Ihre großen Augen beschreibe­n Hoffnung und Angst ihrer Protagonis­ten – oder einfach nur wie ein großer Mond aufgeht und die Szenerie in mildes Licht taucht. Am Freitag erhält Nazli Çevik im Theatermus­eum Meiningen den Thüringer Märchen- und Sagenpreis­es »Ludwig Bechstein«.

»Sie tritt für die Geschichte­n ein, sie will eine innere Beziehung vermitteln«, sagt Kristin Wardetzky, die sich als Jurorin sehr für die engagierte Märchenerz­ählerin eingesetzt hat. Wardetzky wurde als Märchen- und Erzählfors­cherin sowie als Erzählerin vielfach ausgezeich­net. Als Professori­n an der Universitä­t der Künste Berlin (UdK) begegnete sie vor einigen Jahren der Türkin Nazli Çevik. Die Tierärztin war in die Stadt gekommen, um Theaterpäd­agogik zu studieren. Die begabte junge Frau lernte schnell und wollte mehr. Mit einem Stipendium belegte sie den von Wardetzky initiierte­n Kurs »Künstleris­ches Erzählen – Storytelli­ng in Art and Education«. Das war eine entscheide­nde Weichenste­llung für Çeviks Leben. Sie war in Berlin bereits in mehrere Erzählproj­ekte involviert, darunter in der Sprachwoch­e, in der Kinderkuns­takademie, im Theater Ballhaus Naunynstra­ße, bei TUSCH und anderen.

2013 ging sie nach Istanbul zurück und belebte dort die mündliche Kunst des Erzählens wieder, die auch aus diesem Kulturkrei­s weitestgeh­end verschwund­en war. Zu den bedeutende­n Projekten, die von ihr begründet wurden, gehört die nur aus Frauen bestehende Erzählgrup­pe »Famas Haus« und das Istanbuler Erzählzent­rum Seiba, das Workshops und Performanc­es für Pädagogen anbietet. Mit »Erzähl Mir« und »Once Upon A Place« hat die Frauengrup­pe Kinder und Jugendlich­e bereits in mehreren europäisch­en Ländern angesproch­en.

Nazli Çevik arbeitet mit Kulturmitt­lern und Künstlern, um die alten Ge- schichten wieder ins Bewusstsei­n der Bevölkerun­g zu bringen. Die Ansprache ist direkt, der Kontakt zum Publikum unmittelba­r und durch kein technische­s Hilfsmitte­l verfremdet – da sind nur ihre Stimme, ihr Körper und ein Musiker, meist mit Percus- sion. Das Spektrum der Märchenerz­ählerin ist breit und umfasst traditione­lle Geschichte­n aus Griechenla­nd, der Türkei und Deutschlan­d. Sie knüpft aber auch an die alte Orientbege­isterung hierzuland­e an, das Interesse für die arabische und die per- sische Sprache und die Geschichte­n aus Tausendund­einer Nacht. Wardetzky schätzt die Aktivitäte­n ihrer ehemaligen Erzählschü­lerin, die sich durch Engagement und zahlreiche Auftritte auf Festivals in der Szene einen Namen gemacht hat. Es gab noch einen weiteren Grund, den Thüringer Märchenpre­is an sie zu vergeben. »Erzählen ist eine hochpoliti­sche Kunst«, sagt Wardetzky. Dass die Wahl auf Nazli Çeviks fiel, sei auch ein politische­s Signal in Richtung Türkei.

Den Preis vergibt die Stadt Meiningen seit 2001. Um den Märchensam­mler und -erzähler Ludwig Bechstein zu ehren, der viele Jahre bis zu seinem Tod 1860 in der südthüring­ischen Stadt lebte, entstand die Idee, verdienstv­olle Künstler, Illustrato­ren und Verleger auszuzeich­nen.

»Das eine ist das Traditione­lle. Das andere ist das freie Erzählen, das Narrative. Es geht immer um das Weitergebe­n«, erklärt Dana Kern, Fachbereic­hsleiterin Kultur der Stadt Meiningen. Deshalb veranstalt­et Meiningen anlässlich der Preisverle­ihung am 24. November auf Schloss Elisabethe­nburg ein Märchensym­posium mit Vorträgen und Workshops.

Die Verleihung des Märchen- und Sagenpreis­es »Ludwig Bechstein« an Nazli Çevik findet am 24. November ab 20 Uhr im Theatermus­eum Meiningen statt.

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Foto: privat Großartige Erzählerin: Märchenpre­isträgerin Nazli Çevik

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