Klettern statt Krieg
Beat Baggenstos hilft geflüchteten Kindern in libanesischen Lagern, über den Sport sich selbst zu entdecken
Ein Schweizer Kletterenthusiast bringt nahe der syrisch-libanesischen Grenze jungen Geflüchteten das Vertrauen in die eigene Körperlichkeit zurück. Ein Sportprojekt mit großer sozialer Dimension. Fatima hat es geschafft. Handgriff für Handgriff, Schritt für Schritt, hat sich die etwa zehnjährige Syrerin aus der Nähe von Homs gerade an den farbigen Griffelementen der Kletterwand ganz nach oben gezogen. Jetzt genießt sie einen freien Blick auf die Bekaa-Ebene. Für einen Moment hat sich Fatima aus diesem kleinen Camp voller zusammengestoppelter Zelte herausgehoben, das seit einigen Jahren ihre Heimat ist. Sie kann sogar auf die Bergkette schauen, hinter der gar nicht weit entfernt ihr Herkunftsland Syrien beginnt. Dann lässt sie sich fallen, plumpst lachend auf die bunten Matten unter ihr – und nimmt gleich wieder einen neuen Anlauf. Sie probiert eine andere Kletterroute aus, tauscht mit ihren Freundinnen, die ebenfalls an der Wand hängen, ihre Erfahrungen aus.
Die Freizeitbeschäftigung aus dem globalen Norden sorgt hier in der wohl am dichtesten mit syrischen Geflüchteten besiedelten Gegend für große Freude. An der Wand hängt zugleich ein Moment Hoffnung für die Zukunft. Denn Freude und Selbstermächtigung gehören ansonsten nicht zu den Erzählungen über die Bekaa-Ebene.
Auf den ersten Blick wirkt es hier tatsächlich trostlos. Schier unendlich erstreckt sich der gelblich graue Boden dieses 120 Kilometer langen und zehn Kilometer breiten Tals zwischen den Höhenzügen des Libanonund des Anti-Libanon-Gebirges. Bewässert gilt das Gebiet als die Obstund Kornkammer des Landes, dem die Gebirge seinen Namen gaben. Rings um Bar Elias, eine 50 000 Einwohner zählende Kleinstadt an der Straße von Beirut nach Damaskus, ist der Boden aber ausgetrocknet. Anstelle von Plantagen ein unendlich wirkendes Gewirr von Siedlungen. Mal sind es Zeltstädte, erbaut aus Planen, auf denen die blauen Schriftzüge des Hauptspenders UNHCR prangen. Dann wieder Barackensiedlungen. Auch Gebäudeansammlungen aus schnell gegossenem Beton sind zu entdecken, manchmal von Zäunen begrenzt, manchmal frei stehend. »Etwa 1200 Siedlungen für Geflüch- tete gibt es in der Bekaa-Ebene. Wenn man durchfährt, hat man das Gefühl, es seien ungefähr eine Million Menschen hier«, erzählt Elias Matar dem »nd«. Er ist seit zwei Jahren als Freiwilliger der Nichtregierungsorganisation Salam in der Region aktiv.
350 000 Geflüchtete aus Syrien zählte der UNHCR hier offiziell im Sommer dieses Jahres. Viele haben sich allerdings gar nicht angemeldet. Manche verzichten darauf, weil sie zu Schul- und Studienabschlussprüfungen nach Syrien reisen und diese Möglichkeit nicht aufs Spiel setzen wollen, meint Firas Khalaf, regionaler Koordinator von ANERA, einer anderen NGO. Nur 15 Kilometer ist es von hier bis zur Grenze nach Syrien. Etwa eine Stunde mit dem Auto, die Grenzkontrollen nicht eingerechnet, bräuchte man zur syrischen Hauptstadt Damaskus. Andere verzichten auf die Anmeldung, weil sie nicht in offiziellen Listen auftauchen wollen aus Angst vor Repressionen der verschiedenen Kriegsparteien.
Durch die karge, staubige Landschaft schiebt sich der bunte Kleinbus von ClimbAid. Er zieht viele Blicke auf sich. An den Längsseiten und der Rückwand sind Sperrholzplatten befestigt, auf ihnen Kunststoffelemente in vielen Farben und Formen, die als Klettergriffe dienen. Den Kletterbus hat Beat Baggenstos bauen lassen, und dabei auch selbst mit Hand angelegt. Der Mittdreißiger war früher bei der Anlagefirma DWS der Deutschen Bank beschäftigt, ging vor zwei Jahren aber als freiwilliger Helfer nach Libanon. Er arbeitete für Salam, traf dort auch auf Elias Matar. »Und schon damals, beim Essenverteilen, dachte ich daran, wie sich meine Leidenschaft fürs Klettern mit der Arbeit hier verbinden lassen könnte«, erzählt er »nd«.
Zurück in der Schweiz versuchte er, Helfer und Geld aufzutreiben. Menschen, die helfen wollten, fand er schnell. »Letztendlich waren Menschen aus 35 Nationen an der Konstruktion und dem Bau des Busses, bei der Organisation der Materialien und bei der Vorbereitung des gesamten Trips beteiligt«, sagt er. Mit dem Geld war es schwieriger. Große Kletterund Outdoorausrüster sagten ab. Dennoch traf der Bus in diesem Sommer schließlich per Schiff im Hafen von Beirut ein.
An diesem Novembertag fährt er in Richtung einer kleinen Siedlung bei Bar Elias. Bunt ist auch sie. Ein großes Zelt, die Schule, wie sich herausstellt, wurde mit Blumen und einer Sonne bemalt. Der Maler ist auch der Lehrer der Schule und zugleich der Chef des ganzen Camps. »In Homs, wo ich herkomme, habe ich als Händler gearbeitet. Hier bin ich Leh- rer, unterrichte Arabisch und Mathematik, damit die Kinder etwas lernen. Wir haben hier ja sonst gar keine Schule«, erzählt Abu Khalil. Als er den Kletterbus in seine kleine Siedlung für neun Familien mit insgesamt 35 Personen einbiegen sieht, erhellt sich sein Gesicht. Strahlend läuft er auf Beat Baggenstos zu und umarmt ihn. Noch glücklicher wirken die Kinder. Sie legen den Fußball zur Seite, mit dem sie gerade noch zwischen den Zelten gekickt haben, und Beat Baggenstos, Erfinder des Kletterbusses in der Bekaa-Ebene
helfen beim Ausräumen der Matten. Manche tollen gleich auf ihnen herum. Mohammed ist einer von ihnen: elf Jahre alt, ebenfalls aus der Nähe von Homs und schon seit mehr als fünf Jahren im Camp. Stolz erzählt er, dass er heute schon zum 13. Mal an die Wand gehen wird.
Der Bus kommt regelmäßig ins Camp. »Wir hatten viele Anfragen für einmalige Events. Das hätte dann aber eher den Charakter einer Geburtstagsparty gehabt. Wir wollen mehr, wir legen Wert auf die Entwicklung von Gruppen, kollektive Prozesse und das Erlernen von Zusammenarbeit und auch von Konfliktlösungsstrategien«, erklärt Baggenstos. Gemeinsame Aufwärmübungen, ein Meeting, bevor es an die Wand geht, und auch eine Abschlussdiskussion, in der Erfahrungen über die beste und die schwierigste Route ausgetauscht werden, gehören zum Programm.
Das Größte für die Kinder bleibt aber, wenn sie endlich an die Wand dürfen. Fatima und ihre Freundinnen klettern auf der einen Seite, Mohammed und seine Kumpels auf der anderen. Die Mädchen können sich ohne Störungen durch die Jungs ausprobieren. Am Nachmittag ist die Altersgruppe der Jugendlichen an der Reihe. Manche von ihnen kommen aus anderen Camps. »Sie sind im Laufe der Zeit schon unsere freiwilligen Helfer geworden. Sie kommen zu den Terminen mit, überlegen sich auch schon selbst, wie man neue Routen an den Wänden bauen kann«, erzählt Baggenstos.
Er legt Wert darauf, dass sich an vielen Orten auch Libanesen unter den Helfern und unter den kletternden Kindern befinden. Das ist auch notwendig, denn die libanesische Bevölkerung lebt hier teils ebenfalls unter prekären Bedingungen. Ähnlich wie in Europa hat sich auch hier eine feindliche Stimmung gegen Geflüchtete verbreitet. Dabei sind die Verhältnisse viel dramatischer. Auf etwa drei Libanesen kommt ein Geflüchteter. Taxifahrer in Beirut schimpfen über Refugees, die den Libanesen die Arbeit wegnehmen würden.
Allerdings gibt es auch viele Profiteure. Beiruts Cafés und Restaurants sind voller syrischer Köche und Kellner, die für viel weniger Geld als Libanesen arbeiten. Und auch auf den Feldern der Bekaa-Ebene sind Syrer billige Arbeitskräfte. »Das größte Problem ist, dass schon achtjährige Kinder arbeiten müssen. Laut UNHCR gehen nur 28 Prozent der Kinder in die Education Center. Und leider nimmt auch die Zahl der Verheiratungen von 14-jährigen Mädchen zu. Wir müssen versuchen, diese Kinder und Jugendlichen zu erreichen, damit sie nicht zu einer verlorenen Generation werden«, warnt Elias Matar von Salam, der NGO die selbst Schulen und Ausbildungszentren in der Bekaa-Ebene betreibt.
Die Kletterstunden mit ClimbAid sind angesichts dieser dramatischen Situation nur Tropfen auf glühende Steine. Den Kindern und Jugendlichen wird aber ein Erlebnis ermöglicht, das ausstrahlt. »Beim Klettern spürst du dich selbst unmittelbar. Du erhältst sofort ein Feedback, belohnst dich selbst, wenn du oben angekommen bist«, schwärmt Baggenstos von seinem Sport. Er will im nächsten Frühjahr mit seinem Bus wiederkommen. Im Winter wird er in Beirut untergestellt.
Für die Zukunft hat Baggenstos ganz große Pläne: »Mein Traum ist es, die libanesische Kletter-Community, die gegenwärtig zu 90 Prozent aus Christen besteht, um Sportler anderer Religionen zu erweitern und mit ihnen dann gemeinsam in den Bergen Syriens klettern zu gehen. Wenn Frieden herrscht, entwickeln wir dort regionalen Klettertourismus.« Die Bergkette am östlichen Rand der Bekaa-Ebene gehört schließlich bereits zu Syrien. Und Schweizer Kletterer boten dort schon vor der Revolution Touren an.
»Beim Klettern spürst du dich selbst unmittelbar. Du belohnst dich selbst, wenn du oben angekommen bist.«