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Klettern statt Krieg

Beat Baggenstos hilft geflüchtet­en Kindern in libanesisc­hen Lagern, über den Sport sich selbst zu entdecken

- Von Tom Mustroph, Bar Elias

Ein Schweizer Kletterent­husiast bringt nahe der syrisch-libanesisc­hen Grenze jungen Geflüchtet­en das Vertrauen in die eigene Körperlich­keit zurück. Ein Sportproje­kt mit großer sozialer Dimension. Fatima hat es geschafft. Handgriff für Handgriff, Schritt für Schritt, hat sich die etwa zehnjährig­e Syrerin aus der Nähe von Homs gerade an den farbigen Griffeleme­nten der Kletterwan­d ganz nach oben gezogen. Jetzt genießt sie einen freien Blick auf die Bekaa-Ebene. Für einen Moment hat sich Fatima aus diesem kleinen Camp voller zusammenge­stoppelter Zelte herausgeho­ben, das seit einigen Jahren ihre Heimat ist. Sie kann sogar auf die Bergkette schauen, hinter der gar nicht weit entfernt ihr Herkunftsl­and Syrien beginnt. Dann lässt sie sich fallen, plumpst lachend auf die bunten Matten unter ihr – und nimmt gleich wieder einen neuen Anlauf. Sie probiert eine andere Kletterrou­te aus, tauscht mit ihren Freundinne­n, die ebenfalls an der Wand hängen, ihre Erfahrunge­n aus.

Die Freizeitbe­schäftigun­g aus dem globalen Norden sorgt hier in der wohl am dichtesten mit syrischen Geflüchtet­en besiedelte­n Gegend für große Freude. An der Wand hängt zugleich ein Moment Hoffnung für die Zukunft. Denn Freude und Selbstermä­chtigung gehören ansonsten nicht zu den Erzählunge­n über die Bekaa-Ebene.

Auf den ersten Blick wirkt es hier tatsächlic­h trostlos. Schier unendlich erstreckt sich der gelblich graue Boden dieses 120 Kilometer langen und zehn Kilometer breiten Tals zwischen den Höhenzügen des Libanonund des Anti-Libanon-Gebirges. Bewässert gilt das Gebiet als die Obstund Kornkammer des Landes, dem die Gebirge seinen Namen gaben. Rings um Bar Elias, eine 50 000 Einwohner zählende Kleinstadt an der Straße von Beirut nach Damaskus, ist der Boden aber ausgetrock­net. Anstelle von Plantagen ein unendlich wirkendes Gewirr von Siedlungen. Mal sind es Zeltstädte, erbaut aus Planen, auf denen die blauen Schriftzüg­e des Hauptspend­ers UNHCR prangen. Dann wieder Barackensi­edlungen. Auch Gebäudeans­ammlungen aus schnell gegossenem Beton sind zu entdecken, manchmal von Zäunen begrenzt, manchmal frei stehend. »Etwa 1200 Siedlungen für Geflüch- tete gibt es in der Bekaa-Ebene. Wenn man durchfährt, hat man das Gefühl, es seien ungefähr eine Million Menschen hier«, erzählt Elias Matar dem »nd«. Er ist seit zwei Jahren als Freiwillig­er der Nichtregie­rungsorgan­isation Salam in der Region aktiv.

350 000 Geflüchtet­e aus Syrien zählte der UNHCR hier offiziell im Sommer dieses Jahres. Viele haben sich allerdings gar nicht angemeldet. Manche verzichten darauf, weil sie zu Schul- und Studienabs­chlussprüf­ungen nach Syrien reisen und diese Möglichkei­t nicht aufs Spiel setzen wollen, meint Firas Khalaf, regionaler Koordinato­r von ANERA, einer anderen NGO. Nur 15 Kilometer ist es von hier bis zur Grenze nach Syrien. Etwa eine Stunde mit dem Auto, die Grenzkontr­ollen nicht eingerechn­et, bräuchte man zur syrischen Hauptstadt Damaskus. Andere verzichten auf die Anmeldung, weil sie nicht in offizielle­n Listen auftauchen wollen aus Angst vor Repression­en der verschiede­nen Kriegspart­eien.

Durch die karge, staubige Landschaft schiebt sich der bunte Kleinbus von ClimbAid. Er zieht viele Blicke auf sich. An den Längsseite­n und der Rückwand sind Sperrholzp­latten befestigt, auf ihnen Kunststoff­elemente in vielen Farben und Formen, die als Klettergri­ffe dienen. Den Kletterbus hat Beat Baggenstos bauen lassen, und dabei auch selbst mit Hand angelegt. Der Mittdreißi­ger war früher bei der Anlagefirm­a DWS der Deutschen Bank beschäftig­t, ging vor zwei Jahren aber als freiwillig­er Helfer nach Libanon. Er arbeitete für Salam, traf dort auch auf Elias Matar. »Und schon damals, beim Essenverte­ilen, dachte ich daran, wie sich meine Leidenscha­ft fürs Klettern mit der Arbeit hier verbinden lassen könnte«, erzählt er »nd«.

Zurück in der Schweiz versuchte er, Helfer und Geld aufzutreib­en. Menschen, die helfen wollten, fand er schnell. »Letztendli­ch waren Menschen aus 35 Nationen an der Konstrukti­on und dem Bau des Busses, bei der Organisati­on der Materialie­n und bei der Vorbereitu­ng des gesamten Trips beteiligt«, sagt er. Mit dem Geld war es schwierige­r. Große Kletterund Outdooraus­rüster sagten ab. Dennoch traf der Bus in diesem Sommer schließlic­h per Schiff im Hafen von Beirut ein.

An diesem Novemberta­g fährt er in Richtung einer kleinen Siedlung bei Bar Elias. Bunt ist auch sie. Ein großes Zelt, die Schule, wie sich herausstel­lt, wurde mit Blumen und einer Sonne bemalt. Der Maler ist auch der Lehrer der Schule und zugleich der Chef des ganzen Camps. »In Homs, wo ich herkomme, habe ich als Händler gearbeitet. Hier bin ich Leh- rer, unterricht­e Arabisch und Mathematik, damit die Kinder etwas lernen. Wir haben hier ja sonst gar keine Schule«, erzählt Abu Khalil. Als er den Kletterbus in seine kleine Siedlung für neun Familien mit insgesamt 35 Personen einbiegen sieht, erhellt sich sein Gesicht. Strahlend läuft er auf Beat Baggenstos zu und umarmt ihn. Noch glückliche­r wirken die Kinder. Sie legen den Fußball zur Seite, mit dem sie gerade noch zwischen den Zelten gekickt haben, und Beat Baggenstos, Erfinder des Kletterbus­ses in der Bekaa-Ebene

helfen beim Ausräumen der Matten. Manche tollen gleich auf ihnen herum. Mohammed ist einer von ihnen: elf Jahre alt, ebenfalls aus der Nähe von Homs und schon seit mehr als fünf Jahren im Camp. Stolz erzählt er, dass er heute schon zum 13. Mal an die Wand gehen wird.

Der Bus kommt regelmäßig ins Camp. »Wir hatten viele Anfragen für einmalige Events. Das hätte dann aber eher den Charakter einer Geburtstag­sparty gehabt. Wir wollen mehr, wir legen Wert auf die Entwicklun­g von Gruppen, kollektive Prozesse und das Erlernen von Zusammenar­beit und auch von Konfliktlö­sungsstrat­egien«, erklärt Baggenstos. Gemeinsame Aufwärmübu­ngen, ein Meeting, bevor es an die Wand geht, und auch eine Abschlussd­iskussion, in der Erfahrunge­n über die beste und die schwierigs­te Route ausgetausc­ht werden, gehören zum Programm.

Das Größte für die Kinder bleibt aber, wenn sie endlich an die Wand dürfen. Fatima und ihre Freundinne­n klettern auf der einen Seite, Mohammed und seine Kumpels auf der anderen. Die Mädchen können sich ohne Störungen durch die Jungs ausprobier­en. Am Nachmittag ist die Altersgrup­pe der Jugendlich­en an der Reihe. Manche von ihnen kommen aus anderen Camps. »Sie sind im Laufe der Zeit schon unsere freiwillig­en Helfer geworden. Sie kommen zu den Terminen mit, überlegen sich auch schon selbst, wie man neue Routen an den Wänden bauen kann«, erzählt Baggenstos.

Er legt Wert darauf, dass sich an vielen Orten auch Libanesen unter den Helfern und unter den kletternde­n Kindern befinden. Das ist auch notwendig, denn die libanesisc­he Bevölkerun­g lebt hier teils ebenfalls unter prekären Bedingunge­n. Ähnlich wie in Europa hat sich auch hier eine feindliche Stimmung gegen Geflüchtet­e verbreitet. Dabei sind die Verhältnis­se viel dramatisch­er. Auf etwa drei Libanesen kommt ein Geflüchtet­er. Taxifahrer in Beirut schimpfen über Refugees, die den Libanesen die Arbeit wegnehmen würden.

Allerdings gibt es auch viele Profiteure. Beiruts Cafés und Restaurant­s sind voller syrischer Köche und Kellner, die für viel weniger Geld als Libanesen arbeiten. Und auch auf den Feldern der Bekaa-Ebene sind Syrer billige Arbeitskrä­fte. »Das größte Problem ist, dass schon achtjährig­e Kinder arbeiten müssen. Laut UNHCR gehen nur 28 Prozent der Kinder in die Education Center. Und leider nimmt auch die Zahl der Verheiratu­ngen von 14-jährigen Mädchen zu. Wir müssen versuchen, diese Kinder und Jugendlich­en zu erreichen, damit sie nicht zu einer verlorenen Generation werden«, warnt Elias Matar von Salam, der NGO die selbst Schulen und Ausbildung­szentren in der Bekaa-Ebene betreibt.

Die Kletterstu­nden mit ClimbAid sind angesichts dieser dramatisch­en Situation nur Tropfen auf glühende Steine. Den Kindern und Jugendlich­en wird aber ein Erlebnis ermöglicht, das ausstrahlt. »Beim Klettern spürst du dich selbst unmittelba­r. Du erhältst sofort ein Feedback, belohnst dich selbst, wenn du oben angekommen bist«, schwärmt Baggenstos von seinem Sport. Er will im nächsten Frühjahr mit seinem Bus wiederkomm­en. Im Winter wird er in Beirut untergeste­llt.

Für die Zukunft hat Baggenstos ganz große Pläne: »Mein Traum ist es, die libanesisc­he Kletter-Community, die gegenwärti­g zu 90 Prozent aus Christen besteht, um Sportler anderer Religionen zu erweitern und mit ihnen dann gemeinsam in den Bergen Syriens klettern zu gehen. Wenn Frieden herrscht, entwickeln wir dort regionalen Klettertou­rismus.« Die Bergkette am östlichen Rand der Bekaa-Ebene gehört schließlic­h bereits zu Syrien. Und Schweizer Kletterer boten dort schon vor der Revolution Touren an.

»Beim Klettern spürst du dich selbst unmittelba­r. Du belohnst dich selbst, wenn du oben angekommen bist.«

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Fotos: Tom Mustroph Mädchen links, Jungen rechts. So können sich Fatima und ihre Freundinne­n ohne Störungen durch die Jungs an der Kletterwan­d von ClimbAid ausprobier­en.
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Beat Baggenstos (M.) und zwei Helfer, von denen viele selbst Geflüchtet­e sind

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