Auszug aus dem Slamparadies
Frank Klötgen ist einer der ersten deutschen Profi-Slampoeten. Ein Jahr reiste er um den Globus, bevor er dem Wettbewerbsleben den Rücken kehrte. Nach über 140 Auftritten landet er am Ende seiner Weltreise in Mumbai. Ein Abschiedsbericht von seiner Abschi
Es schüttet. Und schüttet und schüttet. Zum Abschied zeigt sich die Monsunsaison noch einmal von ihrer überzeugendsten Seite. Mein Taxifahrer wählt die gewässerärmste Route zum Flughafen. Wir werden uns verspäten.
Wir können uns gar nicht verspäten, versicherten mir Rezeptionist und Concierge, als ich sichtlich nervöser werdend noch auf die Ankunft meines Taxis wartete. Auch die internationalen Flüge würden an so einem Monsunabend nicht pünktlich starten. Hauptsache, wir kämen überhaupt durch. Sie würden meinen Taxifahrer vorsichtshalber noch einmal auf die sicherste Route hinweisen. Wenn die gewählten Straßen tatsächlich die am wenigsten überfluteten Mumbais sind, möchte ich nicht wissen, wie es gerade auf den anderen ausschaut. Ich bin immer noch klatschnass vom kurzen Weg vom Hoteleingang zum Taxi. Unter keiner Dusche der Welt wird man schneller nass. »Don’t worry«, beruhigt mich der Fahrer, als ich auf die Uhr schaue, »your plane will be late!«
Die Monsunzeit war mir ein willkommener Vorwand, mich in der heißen Abgabephase meines Buchs gen Indien aufzumachen. »Da regnet es eh den kompletten Tag über«, haben mich Indienkenner bestätigt. Ich konnte mir einreden, dass es keine bessere Wetterlage geben kann, um den Tag vorm Computer zu verbringen. Da meine Frau beruflich in Mumbai zu tun hatte, musste ich lediglich den Aufpreis für die zweite Person im Doppelzimmer begleichen. Sich für ein paar Euro täglich am reich gedeckten Frühstücksbüffet bedienen zu können und in den Schreibpausen in den Hotelpool zu springen – das klang nach einem guten Konzept, um die letzten Korrekturen am Buch effektiv hinter sich zu bringen.
Gleichsam war es illusorisch, die Neugier auf Land und Leute vier Wochen lang im Zaum halten zu wollen. Auf Land, Slam und Leute, um präzise zu sein. Die 22-Millionen-Metropole Mumbai hält ein reiches Potpourri an Poetry Slams und anderen Spoken-Word-Veranstaltungen be- reit. Schon am dritten Tag schlich ich mich auf die Straßen, um nach dem Barking Deer Ausschau zu halten, wo an jenem Nachmittag der Mumbai Poetry Slam ausgetragen wurde.
An den exotischeren Plätzen, die ich 2016 auf meiner Poetry-SlamWelttour angesteuert habe, war es stets die schwerste Bewährungsprobe gewesen, überhaupt an den Ort des Geschehens zu gelangen. Wo man hierzulande darauf vertrauen darf, dass Straßenschilder, Hausnummern und im Zweifel Google Maps exakt zum Zielort führen, sollte man in fremden Ländern darauf vorbereitet sein, dass derlei Konzepte nicht greifen: Schilder trumpfen in einer fremden Schrift auf, Hausnummern gibt es nur in der Theorie und ein Smartphone zu zücken, ist in manch düsterer Gegend tatsächlich der dümmstmögliche Gedanke. Man lernt auch zu begreifen, dass ein Veranstaltungssaal mitnichten im Keller oder Erdgeschoss eines Gebäudes zu finden ist. Die Tür zum Glück kann auch schon mal unvermutet im dritten Stock auf uns warten.
In Antananarivo auf Madagaskar stiefelte ich ein düsteres Treppenhaus rauf und runter, in Honolulu hatte ich ein Fitnessstudio plus Parkhaus zu durchqueren. Beide Male war ich mir noch in der Eingangstür un- sicher, ob ich wirklich am Ziel war. In Abu Dhabi musste ich kurz vor Mitternacht einen Uni-Campus absuchen, in San José ein Rotlichtviertel durchkreuzen – Situationen, in denen man sich fragt: »Was, zur Hölle, tust du eigentlich hier?« Aber sobald man die Bühne mit einem Mikrofonständer vor sich sieht, lösen sich alle Unsicherheit und alles Unheimliche in Nichts auf. Am Ende ist der Poetry Slam ein probates Mittel, wirklich empfehlenswerte Clubs einer fremden Stadt zu entdecken. Und das Fehlen jeglicher anderer Touristen bestätigt einen in der Ahnung, dass man ohne Slam nie an diesem Ort gelandet wäre.
Von diesem Gefühl trennte mich an jenem Nachmittag in Mumbai noch vieles. Die Adresse bezeichnete lediglich das Eingangstor zu einem Compound. So werden hier beschönigend die Hinterhofviertel einer Straßenzeile genannt – eine eigene Mikrostadt mit schmalen Gassen und unzähligen Gebäuden. Ich war froh, dass der Poetry Slam früh genug begann, mich bei Tageslicht auf die Pirsch nach dem Barking Deer zu machen. Dass dieses Compound zu den Ausgehvierteln der Stadt zählt, hatte mich nämlich eine Spur zu zuversichtlich gestimmt, mich dort schon irgendwie zurechtzufinden. Das sah vor Ort doch ganz anders aus als erwartet. Prompt erschien mir die Straßengesellschaft von Händlern und Automonteuren als zu zwielichtig, um mich ihnen mit meiner Orientierungslosigkeit auszuliefern. Mit vorgetäuscht selbstbewusstem Tempo und vermeintlich festem Ziel im Kopf stürzte ich mich blindlings in die Gassen. Ich war hier ohnehin auffällig genug.
Wie so oft kam der Zufall zu Hilfe: In einer Seitengasse, wo ich die Bar niemals vermutet hätte, erblickte ich jene Rindviehsilhouette, die ich auf der Facebook-Seite vom Barking Deer gesehen hatte. »Are you coming for the Poetry Slam?«, begrüßte man mich in dem von der unnachahmlichen Indienhärte aufgerauten Englisch. Ich versuchte, nicht zu erleichtert zu klingen, als ich bestätigte: »Yes!« Ganz ähnlich sollte es bei meinen späteren Auftritten in Mumbai ablaufen – und doch hatte jeder Ort seine eigenen Überraschungen in petto.
Auf meiner letztjährigen Expedition in Sachen Poetry Slam habe ich bereits vieles entdecken dürfen, das sich wohltuend von der Perfektion der deutschen Standardslams abhob: Ein auf 52 Poeten aufgeblähtes Starterfeld in Paris, eine nach lyrischen Kriterien wertende Expertenjury in Amsterdam und die madagassische Gelassenheit, verspätet eintreffende Slammer noch im Finale in den Wettbewerb einsteigen zu lassen. Überhaupt der Wettbewerb – nirgendwo scheint man ihn in der Weise ernst zu nehmen wie das in Deutschland getan wird. Aber nirgendwo anders ist es den Slammern auch vergönnt, mit ihrer Kunst den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wo immer ich davon berichtete, dass hierzulande gut 200 Menschen vom Poetry Slam leben, erntete ich ungläubiges Staunen. Auf einmal war Deutschland der Exot – das Slamparadies! Scheinbar.
»Wir müssen aufpassen, dass wir nicht genauso enden wie der deutsche Slam!«, erklärte mir Rochelle, die Moderatorin vom Mumbai Poetry Slam und Administratorin einer Homepage, die in einer Monatsübersicht die fünfzehn regelmäßigen Poetry-Termine Mumbais auflistet. »Es gibt viele sehr populäre Videos, die einfach nur zur Vorlage für den eigenen Text genutzt werden. Wenn ich merke, dass sich jemand gar nicht poetisch weiterentwickeln möchte, sondern nur bühnengeil ist, mache ich ihm deutlich, hier fehl am Platze zu sein.«
So erfuhr ich, dass Rochelle für jeden Slam zu einer Vorbesprechung nebst Coaching einlädt, damit ein poetisches Programm gesichert ist und sich nicht etwa ein Comedian mit seinen Texten einschleicht. Für die gibt es schließlich eigene Wettbewerbe in der Stadt, wo man mitunter auf die gleichen Starter trifft – aber eben mit ihren für diese Zwecke gefertigten Texten. Ich seufzte insgeheim ob der textlichen Gemischtwarenhandlung, die ein deutscher Slam bedeutet. In Mumbai beschränkt sich die wilde Mischung auf ein ausgewogenes Starterfeld der Geschlechter und Generationen. Auch das im Hinblick auf die homogene Uniformität auf deutschen Slambühnen: beneidenswert.
Der Vortrag selbst ist auf zwei Minuten limitiert – weniger Zeit hat man nirgends auf der Slamwelt! Aber in einer Stadt, die alle paar Jahre um die Einwohnerzahl von Berlin wächst, muss Platz für alle geschaffen werden.
Als ich zwei Minuten vor offiziellem Boarding in das Flughafengebäude haste, bin ich bereits eine unbestimmte Zahl an Toden gestorben. Der Taxifahrer wünscht mir einen guten Flug. Mit mildtätigem Lächeln. Natürlich ist mein Flug über zwei Stunden verspätet, Wie von jedem prognostiziert. Tja. Man wird seine neunmalkluge Skepsis einfach nicht los, wenn man vordergründig weniger entwickelte Länder bereist. Doch immer wieder merkt man, dass die Leute dort die Dinge auf ihre Weise gut im Griff haben. Die Monsunsaison. Und auch den Poetry Slam.
Wo immer ich davon berichtete, dass in Deutschland gut 200 Menschen vom Poetry Slam leben, erntete ich ungläubiges Staunen. Auf einmal war Deutschland der Exot – das Slamparadies! Scheinbar.