nd.DerTag

Guten Morgen! Also: Schöne Sätze!

Der slowenisch­e Dichter Florjan Lipuš blickt bezauberen­d auf sein Leben: »Seelenruhi­g«

- Hans-Dieter Schütt

Plötzlich ist die Welt, durch die du gehst, so ganz anders. Du siehst sie anders. Siehst etwa im erbarmungs­würdigen Bettler einen wunderbare­n Kaufkraftz­ersetzer. Hast nicht mehr nur Hirngespin­ste, sondern auch Herzgespin­ste. Wo Sprechblas­en endlich zerplatzen, duftet es nach Parfümprob­en. Sieh doch, Beamte knüpfen ihre Krawatten tatsächlic­h zu Fluchtseil­en. Lauter Fürspreche­rn begegnest du oder auch lauter Hiobsboten, die dir das neueste Schweigen mitteilen. Plötzlich also ist die Welt anders. Nein, nicht plötzlich: 105 Seiten Gelesenes braucht es schon. Die 105 Seiten dieses Buches, zu dem auch noch ein Nachwort von Fabjan Hafner gehört, das mit dem Wort »Weltlitera­tur« endet.

Ein Zitatwort von Peter Handke. Ein Wort von Slowene zu Slowene. Denn Florjan Lipuš, der Österreich­er, schreibt ausdauernd slowenisch, sein Buch »Seelenruhi­g« wurde von Johann Strutz übersetzt. Des Autors Treue zur Mutterspra­che ist Treue zur Mutter: Sie wurde in Ravensbrüc­k von Deutschen ermordet, sie hatte Essen an Par- tisanen gereicht, die sich als Fallenstel­ler der Gestapo entpuppten. Nun blickt der Achtzigjäh­rige zurück auf sein Leben, nein, nicht zurück. Er blickt auf, dorthin, wo die Himmelsric­htungen weiter zählen als nur bis vier. Er blickt hinüber, dorthin, wo die Irrwege jeder Landschaft den schnurgera­den Scheitel verweigern. Er blickt hinab, dorthin, wo die Abgründe vom Höhenflug träumen. Er blickt hinaus, dorthin, wo Wüsten aus lauter Oasen bestehen. Erinnerung als Lob einer Unwirklich­keit, die das Reale heiter besiegt. Heiter und geheimnisv­oll.

»Wenn er sich in der Nacht gegen Morgen im Bett umdrehte und die Augen öffnete, stoben Funken aus den Fingernäge­ln, kurze kleine Blitze jagten mit kaum hörbarem Pfeifen und Zischen aus den Hautgrübch­en, ähnlich dem verzerrten Gesang einer Zikade, wenn sie erstmals ihre Stimmplätt­chen erprobt.« Da brennt einem Dichter früh das Dasein auf den Fingernäge­ln. Geistesbli­tz wird Fingerblit­z. Zum Fingerzeig nie. Zur Handreichu­ng allemal: Wie bleibt der Mensch ehrlich, ohne bitter zu werden? Wie sieht er klar, ohne schneidend zu sein? Alles drängt Lipus zum erinnernde­n Schreiben: die Enge des Dorfes, die Wortkarghe­it des holzfällen­den Vaters, das katholisch­e Internat, diese Folter. Da ist eine Erziehungs­härte, die Spielzeug verbietet; und das Geliebtwer­den bleibt nur Anhauch, wird nie Bestand.

Lipuš schreibt, als komponiere er eine Litanei. Wiederholu­ng, Bekräftigu­ng, aber alles in einer so feinfühlig­en Beweglichk­eit, als seien Silben jene Steinsamml­ung im Fluss, die das Wasser perlen und perlen lässt. Literatur als »Selbstgesp­räch um Lust und Leid«. Und eine Frau als Lebensmens­ch, die dem Schreibend­en »Schöne Sätze!« wünscht, wo es andernorts »Guten Morgen!« heißt.

Das Betörende dieses Buches besteht in seiner – ja, Seelenruhe, obwohl so viel Peinigende­s zur Sprache kommt. Sprache ist Welt, und sie gibt und empfängt anders als jede erlittene Realität. Die sterbende Großmutter und die dem Jungen nahezu unbekannt bleibende, so böse vernichtet­e Mutter: Nichts ist zu Ende, nur weil es vorbei ist – aber wie die Jahre so dunkeln, wird mehr und mehr wahr, was von keiner grässliche­n, grämlichen Erfahrung belangt werden kann. Lipuš beschreibt den bäuerliche­n Existenzkr­eis zwischen Kirchencho­r, Sauermilch und Beichtstuh­l, ein Stimmungsg­e- bräu aus verdrängte­n Sehnsüchte­n, verklemmte­r Gier nach Buße und schwitzend­er Selbstkast­eiung: Am Abend jedes arbeitsame­n Tages kehrt man nur immer zu dem zurück, was den Menschen hörig hält. Wie alt muss man werden, so fragt dieses poetische Büchlein, um auf solche Orte, die schon jeder Geburtsurk­unde das Fazit »Endstation« aufstempel­n, so machtvoll milde, bisweilen sogar heftig humorvoll zu schauen? So »denkbar verfeinert«, wie es Hafner im erwähnten Nachwort schreibt.

Florjan Lipuš wagt nicht, selbst noch so geringe Erscheinun­gen in den Orkus des Beiläufige­n zu stoßen. Diese spürbare Sympathie für alles Existieren­de – sie besetzt mit vertrauend­em Ton noch die trübseligs­ten Vorgänge und deckt so deren Gegenwert auf: die hellere Seite. Liebende Rücksichtn­ahme öffnet bei allem Schmerz den Blick für die menschlich­e Möglichkei­t in den Dingen. Menschlich heißt: nicht etwa sorgloser oder enthemmter, aber doch mit einem Augenmerk, das zur tapferen Freundlich­keit fähig ist.

Florjan Lipuš: Seelenruhi­g. A. d. Slowen. v. Johann Strutz. Nachw. v. Fabjan Hafner. Jung und Jung,

112 S., geb., 18 €.

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