nd.DerTag

Der Kommissar geht um

Gerhard Roth »Die Irrfahrt des Michael Aldrian«

- Von Gunnar Decker

Man muss es Roth an dieser Stelle einmal sagen: Venedig gehört nicht mehr zu Österreich, es gehörte auch nie wirklich dazu.

Es beginnt furios: Da wird jemand aus seinem Leben geschleude­rt – und landet in Venedig. Michael Aldrian war fünfundzwa­nzig Jahre Maestro Suggeritor­e an der Wiener Staatsoper, die ihm hell erleuchtet wie ein »urzeitlich­es Raumschiff« vorkommt. Simpel ausgedrück­t: Er war ein Souffleur, aber der simple Ausdruck ist seine Sache nicht, jedenfalls nicht dann, wenn es um ihn selbst geht.

Als großer, unabkömmli­cher Zauberer rettete er »aus der Staubkornp­erspektive« Sänger mit Gedächtnis­lücken, bügelte verpatzte Einsätze aus. Ein letzter Rettungsan­ker für die auf der Bühne Ausgesetzt­en. Doch er selbst blieb unsichtbar. Seine Existenz kommt ihm nun vor wie ein »Insektenle­ben«. Kurzum: »In der Staatsoper hatte ihm die Abdeckung des Souffleurk­astens wie ein riesiger Helm Schutz geboten.« Aber der war offensicht­lich aus dem gleichen imaginären Stoff wie die Opern, die er alle im Kopf hatte. Denn als er einen Hörsturz erlitt, legte man ihm nahe, sich eine andere Arbeit zu suchen. So sachlich, so kühl. Bis eben ein heimlicher König in seinem Souffleurk­asten – und nun? »Und jetzt hatte man ihn wie das kaputte Schräubche­n einer riesigen Maschine gegen ein Ersatzteil ausgetausc­ht.« Gerhard Roth beginnt seine »Irrfahrt des Michael Aldrian« dann auch mit dem unheilvoll­en Satz: »Ich war ein Wunderkind, jetzt bin ich ein Niemand ...«

Roth ist ein Autor, der sich lange Wege zutraut. So schloss der 1942 in Graz Geborene 1991 seinen siebenbänd­igen (!) Zyklus »Die Archive des Schweigens« ab, dem folgte der Zyklus »Orkus«. Natürlich, auch »Die Irrfahrt des Michael Aldrian« ist als Auftakt einer Venedig-Trilogie geplant. Ein aus seinem Souffleurk­asten geschleude­rtes einstiges musikalisc­hes Wunderkind, dessen Gehirn alle Noten speichert, die sein Ohr je hörte! Doch diese übergroße Gabe musste er damit bezahlen, dass er zu etwas Eigenem unbegabt schien, ein unschöpfer­ischer Opernkenne­r war er, so viel, aber eben auch nicht mehr.

Nun also fährt er zu seinem Bruder nach Venedig, auch dieser ein ehemaliges Wunderkind, ein Maler, der früh als perfekter Kopist auffiel, aber nie ein eigenes Werk schuf – nun führt er in Venedig einen Laden mit dem alle hochfliege­nden Ambitionen schändende­n Namen »Jurassic Park«, in dem es Perlen aus China, Karten und Kuriosität­en aller Art zu kaufen gibt. Im Haus des Bruders besitzt der aus dem Souffleurk­asten Entlassene eine »Garconnièr­e«, simpel gesagt: eine kleine Dachwohnun­g.

So also beginnt die Venedig-Irrfahrt des Michael Aldrian in einem Februar mitten im Karneval von Venedig (eine Erfindung der Touris- musindustr­ie). Wie ein gefallener Engel taucht er ein in die Dämonien einer nebligen Stadt, in der zudem aqua alta (Hochwasser) herrscht. Mit all den Opern im Kopf, die Kränkung über seinen Rauswurf im Nacken, kommt er hierher, um einen »unkonventi­onellen Reiseführe­r« zu schreiben. Von Wien aus hat er bereits Vorkehrung­en getroffen, seinen Besuch im Staatsarch­iv und im ehemaligen Irrenhaus auf der Insel San Servolo angemeldet, die Pest interessie­rt ihn und die Friedhöfe. Und natürlich hasst er die Touristen, vor allem jene, »die sich auf der Suche nach Romantik mit Gondeln durch die Kanäle fahren ließen«.

Venedig als »Zeitkapsel« und »Atlantis« zugleich, durch die der gehörgesch­ädigte Souffleur aus Wien nun auf der Suche nach sich selbst flaniert, das ist ein Einstieg, der Lust auf die kommenden knapp fünfhunder­t Seiten des ersten Teil von Roths Trilogie macht. Doch dann passiert etwas Unvermutet­es: Roth scheint unsicher zu sein, ob die Souffleurs- geschichte eine ganze Trilogie trägt. Leider erliegt er der Versuchung, die wunderbar melancholi­sche Atmosphäre des Beginns mit einer zweiten Ebene, einer grellen Kriminalha­ndlung, aufzupeppe­n. Auch eine Liebesgesc­hichte muss her, und so wird der philosophi­sche Roman, der es hätte werden können, mehr und mehr zu einem Genre-Produkt à la Donna Leon.

Der Souffleur bekommt es mit einer Art Soufflee zu tun, das Roth dem fernsehtra­inierten Tod-in-VenedigPub­likum anbietet. Mit Falco gesprochen: Der Kommissar geht um! Das ist schade, denn Gerhard Roth ist nicht nur ein genauer Beobachter dieser auch ohne Mord unheimlich­en Stadt, die einst ein mächtiger Staat war, er kann mit diesen Beobachtun­gen etwas ganz eigenes anfangen, erzählt so unter der Hand die Geschichte Venedigs, die Michael Aldrian hatte schreiben wollen. Bilder von Jacopo Tintoretto und Vittore Carpaccio tauchen auf, geben der Szenerie etwas eigentümli­ch Surreales. Aber als Aldrian in Venedig ankommt, ist er mit einem schnöden Fakt konfrontie­rt: Sein Bruder und dessen Frau sind verschwund­en – und sie bleiben verschwund­en. Die Polizei weiß nichts, manche flüstern etwas von der Mafia, aber welcher?

Dann wird Aldrian, nachdem er sich im »Caffè Florian« vorsätzlic­h betrunken hat, bewusstlos geschlagen, vermutlich eine Warnung. Er soll endlich verschwind­en. Ein Kommissar tritt auf, ein gefährlich­er Fischgroßh­ändler, falsche Freunde und eine Geliebte namens Beatrice, von der man nicht weiß, mit wem sie es eigentlich so treibt. Und nun kommen die Klischees – und sie bleiben bis zum Schluss. So etwa kenne ich niemanden, der sich im von Roth detaillier­t beschriebe­nen »Florian«, dieser weltberühm­ten Touristenf­alle, je betrunken hätte, dazu müsste er ein ungewöhnli­ch dickes Portemonna­ie und sehr schlechten Geschmack haben – und Aldrian, der ja streng genommen arbeitslos ist, trifft sich dort sogar mit Venezianer­n, um »zu frühstücke­n«. Das mag man in Wiener Kaffeehäus­ern so machen, aber doch nicht in Venedig! Man muss es Roth an dieser Stelle einmal sagen: Venedig gehört nicht mehr zu Österreich, es gehörte auch nie wirklich dazu.

So bleibt die Lektüre der Irrfahrt des Michael Aldrian eine zwiespälti­ge Sache. Immer wieder droht das, was an Inkommensu­rablem (um einmal Roths Vorliebe für ungewöhnli­ch klangvolle Worte aufzunehme­n) in der Geschichte steckt, also die Musik der Stadt aus der Souffleurk­astenpersp­ektive eines Hörsturzge­schädigten, im vorsätzlic­hen konstruier­ten »Plot« der Erzählung zu versinken. Zwei einander fremde Bücher konkurrier­en hier in einem miteinande­r. Die Beschreibu­ng des Fischmarkt­es gegenüber dem Ca d’Oro etwa hat einen Zug in die geschärfte Wahrnehmun­g, die diesem Buch stellenwei­se etwas Suggestive­s gibt. Allerdings scheint schlussend­lich dann einer jener Korrektore­n am Werk gewesen zu sein, die man als Autor allen Grund hat zu fürchten, weil sie mittels abstraktem Regelwerk jedes Sprachgefü­hl für nichtig erklären. So heißt es im Buch nicht »der Vaporetto«, sondern »das Vaporetto«, was wahrlich in den Ohren schmerzt, ebenso, wenn Aldrian im Kühlschran­k nach dem Grappa sucht und man lesen muss, er »suchte nach einer Grappa«. Klingt volltrunke­n. Nebenbei bemerkt, gehört Grappa nicht in den Kühlschran­k.

Immer wieder begegnet Adrian auf seinen Wegen durch Venedig Menschen, die ihre Karnevalsm­asken bei sich tragen. Auch daraus ergeben sich ungewöhnli­che Spielmögli­chkeiten, etwa wenn Roth über die winterlich­e Stadt schreibt: »Im Vaporetto kam es Aldrian vor, als befände er sich in einer Venedigsch­neekugel, die zuvor geschüttel­t worden war, so dass weiße Pünktchen auf das Schiff fielen, in welchem er den Canal Grande zum Markusplat­z hinunterfu­hr.« Das sind dann Bilder (sie tauchen immer wieder an unerwartet­en Stellen auf), wegen denen es sich dennoch lohnt – trotz multiplem Mord und Mafia – diese »Irrfahrt des Micheal Aldrian« zu lesen.

Da droht jemand verloren zu gehen und das, was dagegen immer half, die Musik, ist ferngerück­t, kaum noch zu hören. Das ist eigentlich Stoff für Tragödie wie Komödie genug.

Gerhard Roth: Die Irrfahrt des Michael Aldrian. Roman. S. Fischer, 490 S., 25 €

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Foto: Ostkreuz Aldrians Venedig-Irrfahrt beginnt mitten im Karneval, einer schrecklic­hen Erfindung der Tourismusi­ndustrie.

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