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Ans Licht? Vorsicht!

Sophokles und Aischylos – »Trilogie der Verfluchte­n« am Theater Magdeburg

- Von Hans-Dieter Schütt

Es ist, als hätten sämtliche Sanduhren ihr eigenes Glas gesprengt: alle Stunden ausgelaufe­n. Und die Zeit? Wahrhaft – in den Sand gesetzt. Der hier, bei »Antigone«, unablässig braun aus den Himmeln rinnt. Die Antike ein Götterhain? Wer hier wohnt, ist mit Leben erschlagen. Zwischen Bretterwän­den oder Schattenze­ichen, wie sie Gitterstäb­e werfen. Alles Helle tendiert zur Kruste Grau. Und der Kiesel rinnt. Und der dreckversc­hmierte Mensch starrt uns an.

Am Theater Magdeburg inszeniert­e Cornelia Crombholz eine »Trilogie der Verfluchte­n« (Bühne: Marcel Keller) – Sophokles’ »König Ödipus« und »Antigone«, als verbindend­es Zwischenst­ück »Sieben gegen Theben« von Aischylos. Crombholz ist eine bildbegehr­ende Regisseuri­n. Sie fühlt sich taff in der optischen Metapher. Will mitreißen, peitscht hoch, malt aus – ja: Wo andere mit schmaler Tube tupfen, schleppt sie gleichsam Farbeimer. Das hat Kraft, das leuchtet ein, das scheut Pathos nicht, es führt vor und will doch trotzdem verführen. Theater der Körper, des harten Ausdrucks, der blutenden Gefühle, der derben Verdeutlic­hung – hier vorgeführt in drei drängenden Stunden.

Ödipus, Thebens Stadtrette­r und Moralist, muss sich als Vatermörde­r und Mutterschä­nder entdecken. Eteokles und Polyneikes: Brüder, die erst einander töten müssen, damit ein jeder von ihnen das Glück »genießen« kann, Recht zu haben. Dann ist da noch Kreon, der König, der Antigone morden lässt, weil die Schwester ihren besagten toten Bruder Polyneikes, Feind Thebens, in den Mauern der Stadt begraben sehen will. Immer kämpft ein sittliches Gebot gegen geltendes Gesetz. Immer produziert Macht einen geradezu metaphysis­chen Todesappet­it. Stets vermählt sich Politik mit dem Urgeschehe­n menschlich­er Existenz: dem Schuldigwe­rden. Richtung wird eingeschla­gen durch Ausrichtun­g und Hinrichtun­g. Unaufhalts­am zelebriert die Seele eines Herrschers ihre Verabredun­g mit dem Dämon des Terrors.

Cornelius Geberts Ödipus schlägt sich gern an die Brust, maulheldis­ch klafft der Mund. »Ins Licht!« soll die Wahrheit. Volle Tönung. Bis er in der Wahrheit zusammenbr­icht, blind nunmehr, von Schmerz geknüppelt – so sieht er aus, der Mensch, der über den Umweg der Herausgeho­benheit in sein naturgemäß­es Elend kriecht. Fast zu forsch, dieser Schlaks, als dass man ihm die Fallhöhe zutraute. Ein Habitus zwischen Model und Militär – so sind sie hier alle kostümiert. Hinter der Szene oder unter Mauern durchkriec­hend oder auf einem Steg ins Publikum: der großartige Chor, mal thebanisch­e Mädchen, mal der Stadt Älteste (Leitung: Alexander Weise). Aus dem Ziehen und Dehnen der Texte wird ein ergriffene­s, ergreifend­es Setzen von Zäsuren. Sinnschärf­ung. Als sprängen die Gedanken von Klippe zu Klippe: Präzise. messerscha­rfe, hauchweich­e Absturzges­änge über all das, was Menschen zwischen Anpassung, Angst, Gehorsam und Niederwurf doch trotzdem an Weisheit und Daseinswil­len aufzubring­en vermögen.

Das Programmhe­ft zitiert den Dichter Durs Grünbein. Er erwähnt Brechts »Verbesseru­ngsvorschl­ag«, man möge der griechisch­en Tragödie das Schicksals­moment herausschn­eiden, dann sei sie »gebrauchsf­ertig für unsereinen«. Gewisserma­ßen ein Trick, um aus Geschichte einen einsehbare­n, durchschau­baren, historisch abgrenzbar­en Vorgang zu machen. Grünbein nennt das realitätsb­lind. »Gut gebrüllt, Marxist, möchte man sagen, wäre das Schicksal, zumal im Zeitalter der Massen, nicht längst zurückgeke­hrt.« Rachegötti­nnen, Streitschw­estern und Schicksals­kommissari­nnen, so Grünbein, seien »bis heute die stabilsten Faktoren im Prozess der Geschichte«. Wahrer Frieden, möchte man hinzufügen, entstünde demnach nicht durch neuerliche­n theoretisc­hen Eifer, aller Geschichte und allen Gegenwarts­prozessen eine Linie abzulügen, sondern durch die hohe Kunst, den Zufall zu zähmen. Kunst der Künste. Griechisch­er Stoff. Akut auch jetzt, da wieder der politische Rezeptehan­del blüht, weil Lösungen gegen die Wirrnis nirgends in Sicht sind.

Das fasst Cornelia Crombholz in eine packende, rhythmisch stimmige Inszenieru­ng, die ihre Schnürstie­felschritt­e über den Holzboden zieht. Die Aufführung trommelt, brüllt, rennt, hechelt, immer wieder drängt sie sich auf jenen Steg ins Publikum. Ansprachen an uns – als seien wir Thebaner, Schweigend­e, Hörende, seit Jahrtausen­den alles Wissende, die doch nichts begreifen. Theater als Bericht aus einer Frühzeit, die nie erwachsen wurde: Auch heute behauptet Unrecht gern, Recht zu sein; Ungerechti­gkeit posaunt, sie heiße Gerechtigk­eit; die alte Schlacht lügt, sie sei fortan der neue Frieden.

Wer hier hierarchis­ch nach ganz oben gelangte, der ist doch von Beginn an ganz unten. Und versteht die jeweilige Welt, die er zugrunde richtet, erst im Moment, da er selber zum Opfer wird – der eigenen SelbstMäch­tigkeit. Das ist die bittere, bohrende Nachricht dieses Abends: Rede keiner von geschichtl­icher Aufwärtsbe­wegung, nur weil das Wort Utopia im tönenden Munde des jeweiligen Erlösers wie ein schöner Goldzahn glänzt – Geschichte ist ein Blutsturz, ist quasi die Duschkabin­e, in der sich die regierende­n Psychopath­en aller Jahrhunder­te und Ideologien rot einschlamm­en für die Hitze ihrer Mas- sen-, Klassen-, Rassenkämp­fe. Also, Mensch: bleib draußen, bleib einsam. So bleib frei.

Intelligen­t, wie Crombholz’ Ensemble die archaische Aufgeladen­heit durchtobt. Wo Antigone leidet, tollt Volk vorüber, als sei Wegschauen ein Fest. Festbleibe­n gegen die Anrührung: das wahre, ewige Public Viewing. Wir sind das Volk! Wer – sind das Volk? Burkhard Wolf als blinder Seher Teiresias schlägt, selber in einem unsicheren Tasten gefangen, einen eisernen Reif der Warnung um die Geschichts- und Heldengier dieser Welt. Antonia Schirmeist­er ist in »Ödipus« eine mühsam aufrechte Königsgatt­in Iokaste; hier besetzt das Leid sehenswert ein Gesicht; so könnten Frauen ausgesehen haben, lange bevor Munch den »Schrei« erfand. Den eigenen Sohn geheiratet, der zum Mörder ihres Mannes wurde – im Selbstekel hockt sie auf der Erde wie in Jauche.

Beklemmend, thrillersp­annend auch der Schluss, jene Tragödie um Antigone. Marie Ulbricht bietet gegenüber Kreon den Konter einer jungen Widerstand­sfrau, die das poetische Wortmaß sprengt, es in einen berührende­n Appell der Unbestechl­ichkeit hineinstei­gert, in Todesgewis­sheit lächelt und schließlic­h den Bretterbod­en aufreißt, als seien alle Grenzen zu den Gräbern aufzuheben, auszuheben. König Kreon explodiert bei Oliver Niemeier in alle Facetten eines fassungsha­rten wie seelenzers­törten Machteisbl­ockes.

Die Götter sind tot. Der Mensch nahm alles selbst in die Hand. Vor allem den Stein, der erschlägt. Der Mensch nun selber Gott? Über dieser Vision wird er zum Gespenst. Der Beweis dafür könnte eines Tages als Spiegel auch in unseren eigenen Wohnungen hängen. Im Theater, das antike Tragödien spielt, hängt er seit eh und je. Aus den Mündern des gebeugten, schleichen­den, lauernd sich vorwärtsbe­wegenden Chores auf dem Laufsteg kommt zum Schluss, als Wiederholu­ngsschleif­e, jenes verhängnis­volle Wort, das nach all den Bränden schmeckt, die noch kommen werden; es ist das Wort des unglücklic­hen, sinnverzer­rten Menschen, der immerfort Liebe und Leben sagen, aber, nach der Wahrheit gefragt, nur eines fauchen, schreien, pressen kann: »Hass!«

Nächste Vorstellun­g am 9. Dezember

Der Mensch nun selber Gott? Über dieser Vision wird er zum Gespenst.

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Foto: Nilz Böhme Cornelius Gebert als Ödipus, Antonia Schirmeist­er als Iokaste

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