nd.DerTag

All you need is Staatsgewa­lt

Ein Arte-Film und eine Webserie erinnern an die Hippiekult­ur in der Sowjetunio­n

- Von Mario Pschera

In einer grisselige­n Farbaufnah­me laufen junge, langhaarig­e Menschen mit Rucksäcken und einem Kreuz an einer langen Stange an einem Strand entlang – ins Vage. Das Bild wechselt in Technicolo­r. Langhaarig­e Männer und Frauen gehen einen Strand entlang, grauhaarig. Drei junge Mädchen fragen die Veteranen: »Alterchen, warum wurdet ihr Hippies?« – »Weil wir die Nase voll hatten. Wir haben begonnen, alles zu machen, was verboten war.« Lachen. Die Mädchen lächeln etwas verlegen und ratlos zurück. Dann setzt die wabernde E-Gitarre ein.

»Soviet Hippies«, ein Film der estnischen Regisseuri­n Terje Toomistu, ist ein kleines Meisterwer­k über ein Segment der östlichen Kulturgesc­hichte, das bis heute nur den Wenigsten außer- und innerhalb der ehemaligen Sowjetunio­n bekannt sein dürfte. Dem Westen taugten diese Weltverbes­serer nicht als repräsenta­ble Dissidente­n, man hatte schon mit der eigenen Alternativ­kultur seine handfesten Schwierigk­eiten, und im Osten gilt bis heute die Abweichung von der Norm nicht gerade als karrierefö­rdernd.

Schon das Zarenreich war ein bürokratis­ches Monster, und die nach 1917 einsetzend­e revolution­äre Phase der Experiment­e, der Emanzipati­on und Mitbestimm­ung war spätestens 1921 mit der Neuen Ökonomisch­en Politik zum Ende gebracht worden. Die Durchmilit­arisierung der Gesellscha­ft und die Patriotisi­erung des Geistesleb­ens mit Beginn des Zweiten Weltkriege­s trugen das Ihrige dazu bei, aus dem »Neuen Menschen« ein funktionie­rendes Rädchen der Maschine zu machen. Auflehnung gegen die Erstarrung gab es immer. Aber jetzt, in den späten 1960er Jahren, tauchten diese merkwürdig unpolitisc­hen Jugendlich­en mit einer Botschaft auf: »All you need is love«.

Zeitzeuge Kolja aus Leningrad erinnert sich: »Meine Mutter dachte, mit mir wäre etwas nicht in Ordnung, und schickte mich in eine psychiatri­sche Klinik.« Lydia ergänzt: »Unsere pure Existenz ärgerte das System. Man wollte uns weghaben, solche fremden Elemente sollten hier nicht sein. Eine Person mit Bart war schon ein Ärgernis, aber eine Person mit Bart und langen Haaren war noch nicht mal eine Person.« Sich gegen eine ganze durchnormi­erte Gesellscha­ft zu stellen, hieß, ungeheuren Mut zu beweisen. Denn Gewalt wurde nicht nur von der Polizei verübt: »Wenn du auf die Straße gingst, war das jedes Mal, als gingest du in den Krieg.«

Als die Hippies das Trampen entdeckten, bemerkten sie, dass es Gleichgesi­nnte in allen größeren Städten der Sowjetunio­n gab und bildeten eine Art informelle­s Netzwerk. 1971 planten sie eine Demonstrat­ion gegen den Vietnamkri­eg vor der USBotschaf­t in Moskau, und fragten um behördlich­e Genehmigun­g. Die bekamen sie, aber die Demonstrat­ion endete mit der Verhaftung von etwa 3000 Leuten. Studenten wurden relegiert, andere verloren ihre Arbeit, einige Teilnehmer begingen aus Verzweiflu­ng Selbstmord. Die Bewegung wurde in den Untergrund gedrängt, und sie wurde politische­r. Als sich Ronas Kalanta 1972 in Kaunas öffentlich verbrannte und der KGB versuchte, das Begräbnis zu stören, kam es zum Aufstand, der erst nach einigen Tagen durch das Militär unter Kontrolle gebracht werden konnte. Der Bevölkerun­g wurde eingeredet, das Peace-Zeichen sei so eine Art Hakenkreuz und die Hippies seien Faschisten.

Der Staat erlangte die Kontrolle wieder, aber um welchen Preis: Die Kommunisti­sche Partei hatte ihren progressiv­en Anspruch aufgegeben und die Gestaltung­smacht an den militärisc­h-industriel­len Komplex verloren. Die Breshnew-Ära war die Zeit der politische­n Apathie und Verwaltung des Status Quo, die bis heute tiefe Spuren in der Gesellscha­ft hinterlass­en hat. Der Gorbatscho­w’sche Reformvers­uch versandete schlichtwe­g, das Ergebnis ist bekannt. Die Militärbür­okratie indes sitzt wieder fest im Sattel.

Die alten Hippies treffen sich jedes Jahr am ersten Juni im Zarinnenpa­rk, zur Erinnerung an die Ereignisse von 1971. Auffallend junge Menschen sind bei ihnen. Eine junge Frau: »Wir haben zum Schein Demokratie und mehr Freiheit. Deshalb ist es schwierige­r, in dieser imaginären Freiheit die wahre Freiheit zu erkennen.« Am Abend ertönen Polizeisir­enen, Milizionär­e in Kampfunifo­rmen erklären den Park für geschlosse­n.

Der Film »Soviet Hippies« wird begleitet von einer Kurzfilmre­ihe auf Arte über die Nachfolger der Hippies von einst: Kommunarde­n, Wehrdienst­verweigere­r, Ökobauern, engagierte Künstler. Man wünschte sich, dass diese Kombinatio­n einem breiterem Publikum einen Blick auf das andere Russland eröffnet, in dem das System nicht hingenomme­n, sondern mit Tschernysc­hewski die alte Frage gestellt wird: »Was tun?«

»Soviet Hippies« ist bis zum 17. Dezember, »Alternativ­e Russia« bis auf Weiteres verfügbar auf arte.tv.

»Wir lebten in einer völlig durchregle­mentierten Gesellscha­ft, und jeder Verstoß gegen die Regeln gab dir das Gefühl der Ekstase.« Lydia aus Leningrad

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Foto: MDR/privat In der Sowjetunio­n Hippie zu sein erforderte vor allem eines: Mut.

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