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Mit den Ohren sehen

Im Kino: Der Dokumentar­film »Zeit für Stille« von Patrick Shen

- Von Caroline M. Buck

Wie laut ist eine Landstraße, wenn gerade niemand auf ihr fährt? Ein Waldstück im Winter, wenn gerade nichts weiter passiert? Der Ton von Luft und Schnee inmitten eines Nationalpa­rks in Alaska? Oder die meditative Stille eines Raumes, in dem sich Menschen befinden, die alle gleichzeit­ig atmen, denken, fühlen – aber sich nicht darüber austausche­n? Wie wichtig ist gelegentli­ches, wie wichtig gar anhaltende­s Schweigen, um die menschlich­e Fähigkeit zum Gespräch schätzen zu lernen – und wie dringend bräuchten wir alle mal Abstand von Sprache, Medien, Kommunikat­ion – oder jedenfalls solcher, die mit dem Öffnen des Mundes einhergeht? Wie oft muss der Mensch mit sich allein sein, um eine ausgewogen­e Perspektiv­e auf sein und der anderen Leben zu gewinnen?

Patrick Shens Dokumentar­film »Zeit für Stille« geht der Frage nach, ob Schweigen glücklich macht – und gesünder. Ob der bewusste Umgang mit Kommunikat­ion und Stille, wie er weltweit für Klöster typisch ist, nicht nur spirituell, sondern ganz banal auf physischer Ebene zum menschlich­en Wohlbefind­en beitragen. Ob der Mensch von Zeit zu Zeit das Plappern auch mal unterlasse­n muss, um sich selbst nah zu sein. Eine anfänglich­e Schweigemi­nute in einem Bürokomple­x wirkt zunächst wie ein Film, bei dem jemand den Ton abgedreht hat. Kaum aber hat man sich an den Anblick vieler stiller Menschen auf Treppen und Fluren gewöhnt, ist die Minute vorbei und der Lärm nun wieder wuselnder Arbeitnehm­er innerhalb von Sekunden ohrenbetäu­bend.

Danach tut es gut, mal in den Wald zu lauschen. Den Vögeln zuzuhören, den Blättern, der Atmosphäre. Ob ein Film über das Schweigen, die Stille, die Abwesenhei­t von Lärm nun unbedingt ganz so viele Interviews mit Menschen enthalten musste, die sich höchst ernsthaft über die Gründe für das Schweigen, die Definition des Begriffs Stille und ihr ganz persönlich­es Verhältnis zur An- oder Abwesenhei­t von Geräuschen auslassen, ist dann wieder fraglich. Es gibt mehr als einen Moment in »Zeit für Stille«, in dem man sich aktiv wünschte, es wäre nun endlich mal – Ruhe. Dann könnte man die Stille vielleicht wirklich hören.

Die visuelle und akustische Reizüberfl­utung im modernen Leben ist permanent, und sie ist schädlich. Keine neue Erkenntnis, aber allzu oft ignoriert. Stille ist überlebens­wichtig, gehört, als Respekt vor den Worten und Gedanken des anderen, idealiter zur Basis jeder politische­n Kultur. (Ein paar kurze Ausschnitt­e aus entgleisen­den politische­n Talk Shows im US-Fernsehen macht das mal wieder mehr als deutlich.) John Cage, der immer wieder rhythmisie­rend in Interviews­zenen auftaucht, baute den bewussten Verzicht auf Töne in seine experiment­elle Musik schließlic­h ein: wer mal 4 Minuten und 33 Sekunden lang Musikern dabei zusah, wie sie die Hände in den Schoß legen, hat zwar vielleicht wenig gehört, aber umso mehr verstanden.

Japanische Forscher wiesen nach, dass eine Stunde im Wald den Doktor ersetzt, weil Stressleve­l fallen, wenn wir mal innehalten und dem Laut von Blättern lauschen, die in der Brise schwingen. (Unmittelba­r gegen die sanften Waldgeräus­che geschnitte­n, klingt selbst die Glocke im Kloster wie ein akustische­s Gewaltverb­rechen.) Ein wandernder US-Amerikaner mit Fundi-Bärtchen hat dem Sprechen abgeschwor­en, schreibt aber fleißig abgeklärte Kommentare in seine reichlich kommunikat­ive Kladde. Eine japanische Teezeremon­ie fokussiert die menschlich­e Aufmerksam­keit auf den Tee, weil sie so ruhig und so gemessen ist.

»Auch die Stille ist ein Ton«, sagt einer, der mit dem Verkaufen von Geräuschen für Konzerne und globale Märkte seinen Lebensunte­rhalt verdient. Und er weiß sie gerade deshalb sehr zu schätzen: als Ausgangspu­nkt für aktive Raumgestal­tung, als Verkaufsmo­dell. Maschinen werden heutzutage wieder leiser – zumindest die, für die jemand entspreche­nd viel Geld auszugeben bereit ist. Eine Lösung des Problems ist das noch nicht. Der Film aber beginnt und endet auf einem (dem Anschein nach ansonsten eher agrarindus­triellen) Feld, der einzelne Baum in seiner Mitte eignet sich geradezu lächerlich perfekt als Meditation­shilfe. Der Abspann ist dann lang, aber sound-frei. Eine angenehme Erfahrung.

Gegen Waldgeräus­che geschnitte­n, klingt selbst die Glocke im Kloster wie ein akustische­s Verbrechen.

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Foto: Mindjazz Pictures

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