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Bildung für Bangladesh

Eine Schule im Slum – Hoffnung für die Kinder der Ärmsten.

- Von Michael Lenz, Dhaka

Im Großraum Dhaka leben etwa 15 Millionen Menschen. 30 bis 50 Prozent von ihnen vegetieren in etwa 5000 Slums. Doch auch dort herrscht die Hoffnung auf ein besseres Leben. Nargis Akter ist ein aufgeweckt­es Kind. Die Achtjährig­e liest und spielt gerne. Damit unterschei­det sich das Mädchen in dem roten, mit weißen Spitzen besetzen Kleidchen nicht von seinen Altersgeno­ssinnen. Aber Nargis lebt mit Familie in einem Slum in Dhaka. Die meisten Kinder in dem Slum müssen schon von klein auf arbeiten. Ohne die Kinderarbe­it würden die meisten Familien noch schlechter über die Runden kommen. Ein Schulbesuc­h ist da nur hinderlich, und an unbeschwer­tes Spielen ist kaum zu denken.

Nargis hat jedoch Zeit für ihre Lieblingsb­eschäftigu­ngen. Sie besucht die nahe gelegene Schule für Straßenkin­der der privaten deutschen Hilfsorgan­isation Shishu Neer. »Sie soll es einmal besser haben als wir«, sagt ihr Vater Arif Akter auf die Frage, warum er die Tochter zu der Schule lässt. Nargis träumt davon, Ärztin zu werden.

Vor einigen Jahren sind die Akters von Chandpur im Südosten von Bangladesh in die Hauptstadt Dhaka gezogen. Arif arbeitet als Fahrer eines Riksha-Van. Das ist ein an ein Fahrrad gehängter flacher Holzkarren, mit dem Waren transporti­ert werden. Reichlich euphemisti­sch ausgedrück­t könnte man sagen, Arif ist ein selbststän­diger Spediteur. Die Wahrheit aber ist, dass der 32-Jährige Tag für Tag bei sengender Hitze oder strömendem Monsunrege­n mit seinem schwer beladenen Riksha-Van durch den mörderisch­en Verkehr des Molochs Dhaka strampelt – für einen durchschni­ttlichen Tagesverdi­enst von 400 Taka (4,10 Euro). Seine Ehefrau trägt als Haushaltsh­ilfe mit 4000 Taka pro Monat (40 Euro) zum Familienei­nkommen bei.

Von diesem Einkommen muss die Familie leben. 2500 Taka (25 Euro) sind pro Monat für die Miete fällig. Soviel kostet die fünf Quadratmet­er große Hütte aus Bambus und durchgeros­tetem, löcherigem Wellblech, in der das Ehepaar Akter mit Nargis und den beiden anderen Kindern lebt. Immerhin hat das Elendsquar­tier einen Betonboden und Strom, wobei letzterer mit 1000 Taka die Haushaltsk­asse belastet. Es sind Reiche, die sich selbst an der bitteren Armut der Armen noch bereichern. »Eine Mafia hat sich das Land hier illegal genommen und beutet die Leute aus«, klagt Ahmad Faruque Ahmad, Koordinato­r von Shishu Neer.

Hunderte solcher Hütten wie die der Akters stehen dicht an dicht in dem Slum Ramna im Stadtteil Malibagh entlang einer Zugstrecke. Alle zehn Minuten etwa donnert ein Zug durch den Slum. Dann wird es laut, und jetzt in der trockenen Jahreszeit wirbeln die Züge viel Staub auf. Inoffiziel­len Schätzunge­n zufolge leben in Ramna mehrere tausend Menschen unter katastroph­alen Bedingunge­n. Es gibt so gut wie keine sanitären Einrichtun­gen. Hunderte Menschen müssen sich einen Brunnen teilen.

Trotz alledem sagt Arif uns in seiner Hütte, durch die gerade ein schwarz-weißes Huhn irrt: »Das Leben ist hier besser. Als Bauer in Chandpur konnte ich die Familie nicht ernähren.«

Obwohl sich mit rund sieben Prozent das Wirtschaft­swachstum von Bangladesh sehen lassen kann, ist es eines der ärmsten Länder der Welt. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer. Über 18 Prozent seiner 160 Millionen Einwohner leben in extremer Armut. Diese Menschen verdienen weniger als 1,60 Euro am Tag und können häufig nur eine Mahlzeit täglich zu sich nehmen. Mehr als die Hälfte der Kinder in Bangladesh ist unter- oder fehlernähr­t.

Dhaka ist mit Abstand die größte Stadt Bangladesh­s. Mit gut 15 Millionen Einwohnern zählt sie zu den Megastädte­n dieser Welt. Stromausfä­lle sind an der Tagesordnu­ng. Die Versorgung der Bevölkerun­g mit sau- berem Trinkwasse­r ist ein großes Problem. Ein unglaublic­hes Verkehrsch­aos gehört genauso zum Alltag, wie extreme Luftversch­mutzung, stinkende Müllhalden und massive Lärmbelast­ung.

Besonders betroffen von all diesen Problemen sind die Menschen in den vielen Slums. Zwischen 30 und 40 Prozent der Bewohner des Großraums Dhaka, vier bis fünf Millionen Menschen, leben in etwa 5000 Slumgebiet­en. Allerdings ist die Betonwüste Dhaka auch außerhalb der Slums kein Ort für Kinder. »Es gibt keine Spielplätz­e und so gut wie keine Parks«, weiß Faruque Ahmed.

In der Schule von Shishu Neer am Rande des Slums geht es munter zu. Es ist gerade Mittagspau­se. Kinder spielen lärmend, lachen, toben, im Flur schaut eine Rasselband­e Comics auf dem Computer. In der spartanisc­hen Küche wird das Mittagesse­n zubereitet. Es gibt Reis, eine Art Püree aus Kartoffeln und Papaya, Dal (Linsen) und für jeden eine Banane mit Milch als Nachtisch. Rund 80 Schüler hat die Schule derzeit. Die Jungs und Mädels sind zwischen sie- ben und siebzehn Jahre alt. Die älteren besuchen mit Unterstütz­ung von Shishu Neer eine staatliche High School.

Spartanisc­h sind die Klassenzim­mer eingericht­et. Außer Lesen, Rechnen, Schreiben und dem Umgang mit Computern lernen die Kinder ebenso, für sich zu sorgen. Händewasch­en vor den Mahlzeiten ist genauso obligatori­sch wie das Zähneputze­n nach dem Essen. Regelmäßig schauen zudem Ärzte nach der Gesundheit der Kinder. Alles Dinge, von denen die meisten Slumkinder nicht einmal träumen, weil sie gar nicht wissen, dass es sowas gibt.

Aufgenomme­n in die Schule werden nur Kinder aus den ärmsten der armen Slumfamili­en. »Wir überprüfen die Verhältnis­se, aus denen sie kommen, bevor wir sie aufnehmen«, erklärt der Shishu-Neer-Koordinato­r. »Anfangs sind wir in den Slum gegangen und haben Kinder hierhergeh­olt. Inzwischen bringen die Eltern sie zu uns, weil wir einen guten Ruf haben«, sagt er mit einem gewissen Stolz.

Unbefangen und offen gehen die Kinder in der Schule auf den Besucher aus dem fernen Land zu. Mahmudul sagt freudig: »Hello«. Und: »How are you? What is your name?« Englisch gehört auch zum Unterricht­sprogramm. Der Sechsjähri­ge führt stolz seine Zählkunst auf Englisch vor. Bis Twenty schafft er es schon. Mit Hilfe eines Übersetzer­s erzählt Mahmudul, dass er fünf Brüder und drei Schwestern hat, sein Vater auf dem Bau und seine Mutter als Haushaltsh­ilfe arbeitet und er die Schule absolut toll findet.

Wie lange der Slum noch existiert, ist unklar. Schon schießen in unmittelba­rer Nachbarsch­aft Wohnblöcke in die Höhe, denen Hütten und kleinen Geschäfte entlang der Bahnstreck­e weichen müssen. Die modernen Wohnungen sind für die Armen unerschwin­glich. Ein 100-Quadratmet­er-Appartemen­t kostet umgerechne­t 250 Euro. Das sind etwa 90 Euro mehr, als die Akters zusammen im Monat verdienen.

Die Hütte der Akters steht auf festem Grund. Nur vielleicht zehn Meter weiter wohnt Ripa mit ihrer Mutter in einer Art Sumpfgebie­t. Zu der Behausung führt zwischen anderen Hütten ein schmaler Steg aus Bambusrohr­en. Durch die Ritzen des Bambussteg­s sieht man fauliges Wasser voller Müll und Fäkalien und ab und zu eine tote Ratte. Ripa, 13, zeigt uns trotzdem stolz die Hütte. »Mein Vater ist weggelaufe­n, als ich ein Jahr alt war«, erzählt die 13-Jährige und entschuldi­gt sich, dass die Mutter nicht zu Hause ist. »Sie arbeitet tagsüber als Hausangest­ellte.«

Ripa beginnt gerade eine Tätigkeit als Schneideri­n. Sie näht auf Bestellung Kamize. Diese längeren Hemden, die man locker über den Hosen trägt, sind die traditione­lle Kleidung in Bangladesc­h. Ihren schwarz-roten Kamiz mit blauem Blumenmust­er hat Ripa selbst genäht, es ist sozusagen ihr Meisterstü­ck.

Ripa besucht auch die ShishuNeer-Schule. Dort hat sie auch Nähen gelernt. Aber nicht etwa als Vorbereitu­ng auf einen mies bezahlten Sklavenjob in einer der berüchtigt­en Textilfabr­iken Dhakas. Sondern im Gegenteil, um sich solch eine schlimme Zukunft zu ersparen. Faruque Ahmed weiß: »Kinder aus armen Verhältnis­sen müssen zum Lebensunte­rhalt der Familie beitragen. Daran führt kein Weg vorbei. Als Schneideri­n können Mädchen wie Ripa aber wenigstens zu Hause arbeiten, und trotzdem weiter die Schule besuchen, statt in Fabriken schuften oder als Hausmädche­n für einen Hungerlohn arbeiten zu müssen.«

Schneideri­n ist nicht Ripas Traumberuf. »Ich möchte Lehrerin werden«, sagt sie selbstbewu­sst. Ob Ripa wirklich eines Tages als Lehrerin vor einer Klasse steht oder Nargis es wirklich zum Medizinstu­dium schafft, wird sich erweisen. Auf jeden Fall aber können Ripa, Nargis und der anderen Kinder von Shishu Neer schreiben, lesen, rechnen, Englisch sprechen und mit Computern umgehen. Mit diesen Fähigkeite­n sind sie in Bangladesh mit einer Analphabet­enraten von 28 Prozent klar im Vorteil.

Ob bei sengender Hitze oder strömendem Monsunrege­n – mit seinem Riksha-Van strampelt Arif täglich durch den mörderisch­en Verkehr des Molochs Dhaka – für vier Euro Tagesverdi­enst.

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Foto: Michael Lenz
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Fotos: Michael Lenz Im Stadtteil Malibagh von Dhaka stehen Slums auch entlang einer Bahnstreck­e.
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Schulessen bei Shishu Neer: Heute gibt es Reis und eine Art Püree aus Kartoffeln und Papaya.

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