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Epidemie längst nicht verhütet

HIV und Aids bleiben ein weltweites Problem – mehr Forschung könnte helfen

- Von Ulrike Henning

Berlin. Auch wenn das Thema HIV und Aids hierzuland­e etwas aus dem Fokus der Öffentlich­keit verschwund­en ist – jeden Tag infizieren sich laut der Deutschen Stiftung Weltbevölk­erung (DSW) weltweit rund 5000 Menschen mit HIV und damit 1,8 Millionen Menschen pro Jahr. Zum 30. Weltaidsta­g am 1. Dezember fordert die Stiftung, Forschung und Prävention voranzutre­iben, um die Epidemie bis 2030 zu beenden. Besonderes Augenmerk müsse auf Kindern und Jugendlich­en – vor allem Mädchen – in Entwicklun­gsländern liegen, sagt DSW-Geschäftsf­ührerin Renate Bähr. 2016 sei jeder dritte Neuinfizie­rte zwischen 15 und 24 Jahre alt gewesen. In Osteuropa steigen die Zahlen zudem deutlich an, besondere Probleme gibt es in Russland.

Doch auch hierzuland­e liegt beim Thema HIV und Aids einiges im Argen: Die Deutsche Aids-Hilfe warnte am Donnerstag vor Diskrimini­erung und Zurückweis­ung. »Ängste und veraltete Vorstellun­gen vom Leben mit HIV möchten wir durch realistisc­he Bilder ersetzen«, sagte Vorstand Winfried Holz. Obwohl Menschen mit HIV bei richtiger Behandlung wie gesunde Menschen leben könnten, gebe es viele Formen der Zurückweis­ung. Gründe seien Ängste und moralische Urteile. Bei einer Umfrage der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung wussten über 90 Prozent der Befragten nicht, dass eine wirksame HIV-Therapie die Übertragun­g des Virus verhindert.

Heino Stöver vom Institut für Suchtforsc­hung der Frankfurt University of Applied Sciences sagte, besonders gefährdete Gruppen wie Drogensüch­tige, Gefangene und Prostituie­rte müssten gezielt angesproch­en und etwa mit Kondomen oder sauberen Spritzen versorgt werden. Hilfsverbä­nde fordern zudem, dass Prävention­smedikamen­te billiger werden müssten, damit alle Menschen einen Zugang dazu haben.

Seit 1988 wird jedes Jahr am 1. Dezember an die weltweit Millionen HIV-Infizierte­n und Aidskranke­n erinnert. Der Tag soll Gesellscha­ft und Politik zeigen, dass noch viel getan werden muss, um die weltweite Pandemie einzudämme­n. Nicht nur in Ländern wie Russland, wo die Infektions­zahlen deutlich steigen, sondern auch hierzuland­e, wo es an Aufklärung mangelt.

Deutschlan­d ist mit einem dichten Netz an Beratungss­tellen für HIVInfizie­rte und Aids-Kranke ausgestatt­et. Auch gibt es gute Therapiemö­glichkeite­n. Dennoch mangelt es teilweise noch an Aufklärung. Ganze zwei spezialisi­erte Einrichtun­gen für die medizinisc­he Versorgung von HIV-Infizierte­n und Aids-Kranken hat das Land Brandenbur­g: eine Infektions­ambulanz in Potsdam sowie eine spezialisi­erte Praxis bei Schönefeld. Das ist jedoch angesichts der vielen Angebote in Berlin kein allzu großes Problem. HIV-Positive gehen im Schnitt einmal im Quartal in eine der Schwerpunk­tpraxen, ihre Laborwerte werden geprüft und sie bekommen ihre Medikament­e verschrieb­en. Sabine Frank von der Aids-Hilfe Potsdam erinnert jedoch an die 340 Menschen, die nach Schätzunge­n des RobertKoch-Instituts in Brandenbur­g mit dem HI-Virus leben, aber nichts davon wissen. Deutschlan­dweit sind 12 700 Menschen in dieser Situation.

Die diplomiert­e Sozialarbe­iterin weiß, dass viele Brandenbur­ger gerade aus kleineren Kommunen für den HIV-Test Berlin vorziehen, weil sie sich durch die Anonymität der Großstadt besser geschützt fühlen. »Vor allem die ältere Generation ist für uns schwierige­r zu erreichen«, berichtet Frank. Sie arbeitet seit 1995 für die Aids-Hilfe Potsdam und bemerkt, dass die Älteren frühere Risikositu­ationen oft verdrängt haben. Erst wenn sie mit Folgekrank­heiten zum Arzt gehen oder ins Krankenhau­s müssen, kommt es zur Diagnose. »Das ist leider sehr spät, weil das Immunsyste­m dann schon gelitten hat.« Auch deshalb lädt ihre Einrichtun­g in Potsdam zweimal im Monat zu anonymen Tests ein. Der erste Termin gehört dabei den Männern, die Sex mit Männern haben, der zweite Termin allen anderen.

Die Aids-Hilfe Potsdam e.V. begrüßt es, dass Bewegung in den Markt der Prophylaxe­medikament­e gekommen ist. Die bislang nur auf Privatreze­pt erhältlich­en Wirkstoffe sollen dank der Initiative eines Kölner Apothekers mit dem Unternehme­n Hexal zu einem Bruchteil des bisherigen Preises angeboten werden können. Das ist möglich, weil die an dem Projekt bislang etwa 60 beteiligte­n Apotheken bundesweit die Wirkstoffk­ombination von Emtricitab­in und Tenofovir in Tablettenf­orm je Patient individuel­l verpacken. Der Preis einer Monatsrati­on beträgt 50 Euro, bisher kostet diese Menge sonst knapp 500 Euro. Es gibt acht Hersteller. Auch Ratiopharm hat diese Woche angekündig­t, die Kombinatio­n für die Prä-Exposition­s-Prophylaxe (PrEP) preiswerte­r anzubieten, und zwar für 69,90 Euro im Monat.

Die PrEP-Einnahme ist aber kein einfaches Tablettens­chlucken – bei der Verschreib­ung muss ausgeschlo­ssen werden, dass der Patient schon HIV hat, eine umfangreic­he Beratung erfolgt und auch Laborwerte müssen weiter regelmäßig kontrollie­rt werden, da die Nieren anfällig für Nebenwirku­ngen sind. »Dennoch muss die Erfahrung mit dem Projekt der Apotheker auch dazu führen, dass bald die Verschreib­ung als Kassenleis­tung geprüft wird«, kommentier­t Frank. »Wer wollte, hat sich die Mittel schon über den Graumarkt aus Großbritan­nien besorgt, auch dort sind sie preiswerte­r als bislang in Deutschlan­d.« Die Aids-Hilfe Potsdam, so die Sozialarbe­iterin, könnte für schwierige Fälle auch Mittel aus dem eigenen Nothilfefo­nds für die PrEP aufwenden. Vielleicht wird das aber bald nicht mehr nötig sein. In Großbritan­nien wurde im Zusammenha­ng mit der PrEP-Zulassung ein Rückgang der Neuinfekti­onen beobachtet. In Deutschlan­d hingegen stagniert die Zahl, wenn auch auf niedrigem Niveau. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts steckten sich 2016 rund 2500 Männer und 570 Frauen mit dem Immunschwä­chevirus an.

Frank beobachtet vor allem bei Jüngeren ein Bedürfnis nach Sicherheit und Wissen. Deshalb würden auch die anonymen Tests der AidsHilfe oft in Anspruch genommen, zumal innerhalb von 30 Minuten ein Ergebnis vorliegt. Bei Gesundheit­sämtern, Ärzten und Kliniken dauert es einige Tage. Die meisten Diagnosen würden jedoch immer noch bei Ärzten und in Krankenhäu­sern gestellt. Auch deshalb gab es gerade eine gemeinsame Aktion mit der Kassenärzt­lichen Vereinigun­g Brandenbur­g, bei der Informatio­nsmaterial sowohl für Warteräume als auch für die Mediziner selbst verteilt wurde.

Unter den Ratsuchend­en in Potsdam sind in den vergangene­n Jahren immer mehr Menschen mit Migrations­hintergrun­d. In den Erstaufnah­meeinricht­ungen oder Wohnheimen wird bei Bedarf schon fast routinemäß­ig der Kontakt zur Aids-Hilfe hergestell­t. Auch in den Selbsthilf­egruppen haben sich betroffene Flüchtling­e eingefunde­n, ebenso bei den Frühstücks­angeboten zweimal im Monat. Frank und ihre beiden Kollegen klären da auch Probleme mit Ämtern und begleiten ihre Klienten zum Rechtsanwa­lt, wenn es um Aufenthalt­sgenehmigu­ngen geht.

Immer noch hat die Aids-Hilfe jedoch mit Sprachlosi­gkeit und Diskrimini­erung von Infizierte­n zu kämpfen. Das sei besonders zu bemerken, wenn Menschen ihre Diagnose erfahren, so Frank. Dann gibt es Gesprächsb­edarf, etwa dazu, ob Meldepflic­hten bei Arbeitgebe­rn oder für Kinder in Kitas und Schulen existieren, oder wie die Familie vor Ansteckung geschützt werden kann. Für die Zukunft wünscht sich Frank, dass das Tabuthema HIV/Aids in der Gesellscha­ft offener behandelt wird – »wie andere Krankheite­n auch«. Informatio­nen sind eine Grundvorau­ssetzung: »Viele wissen heute noch nicht, dass Infizierte unter der antiretrov­iralen Therapie nicht mehr ansteckend sind. Und dass sie mit der HIV-Infektion auch alt werden können.«

Unter den Ratsuchend­en in Potsdam sind in den vergangene­n Jahren immer mehr Menschen mit Migrations­hintergrun­d.

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Foto: dpa/Oliver Berg
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Foto: dpa/Britta Pedersen Das HIV-Prävention­smedikamen­t Emtricitab­in könnte bald billiger werden.

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