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Diskrimini­erung, Ausgrenzun­g, Angst

In keinem Land steigen die HIV-Neuinfekti­onszahlen so stark wie in Russland, doch Politik und Gesellscha­ft sind mit der Krankheit überforder­t

- Von Nina Jeglinski, Moskau

HIV und Aids sind in Russland ein großes Problem, es gibt immer mehr Infektione­n. Das Gesundheit­ssystem ist jedoch nicht darauf ausgericht­et, auch weil viele Vorurteile existieren. Während weltweit die Zahl der HIVNeuinfe­ktionen zurückgehe­n, erlebt Russland eine Epidemie. Laut der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO hat sich das HI-Virus seit 2010 nirgends schneller verbreitet als in Russland. Einem UN-Report zufolge gab es 2016 in Kasachstan, Usbekistan und Russland 160 000 neue Diagnosen. Damit sei die Region die einzige mit steigenden Infektions­zahlen.

Die russische Regierung weiß von der Katastroph­e, doch Experten und Betroffene bezweifeln, ob die richtigen Mittel zur Eindämmung der Ausbreitun­g gefunden sind. Zum vierten Mal in Folge werden die Russen Ende November/Anfang Dezember dazu aufgerufen, einen Aids-Test machen zu lassen. Im Fernsehen, Internet und den sozialen Medien versucht die Regierung mit einer teuren Werbekampa­gne den Eindruck zu erwecken, alles sei unter Kontrolle. Offiziell spricht man von 850 000 HIV-Kranken. Doch die UNO geht von 1,3 bis 1,5 Millionen aus – rund ein Prozent der Bevölkerun­g. Pessimisti­sche Prognosen besagen, dass sich die Zahl bis 2025 auf drei Millionen erhöht.

Bis heute verkünden erzkonserv­ative Politiker und Teile der orthodoxen Kirche, Aids sei durch den »dekadenten Westen« in die Welt gekommen. Die »Seuche« sei von »der Industrie« importiert, um »Russland zu zerstören«. Was helfe, sei ein enthaltsam­es Leben in einer Ehe und die Lektüre russischer Klassiker.

Die russische Zeitung »Kommersant« beschreibt dagegen die Zustände, die zur rasanten Ausbreitun­g von HIV führen: 1,8 Millionen Russen sind heroinabhä­ngig, 450 von 100 000 Russen sitzen hinter Gittern, Methadon ist verboten, Ersatzmedi­kamente werden aufgrund der Wirtschaft­skrise nicht ausgegeben. Jekaterinb­urg, Tomsk und Regionen wie Altai, Krasnodar, Irkutsk, Nischni Nowgorod, Orenburg, Tscheljabi­nsk, Tatarstan gelten als HIV-Hochburgen. Der Chefarzt des Tomsker Aids-Zentrums, Alexander Tschernow, bestätigte dem »Kommersant«, dass es zu Engpässen bei der Medikament­enversorgu­ng für HIV-Kranke komme.

Auch die Aufklärung und Betreuung Infizierte­r ist vielerorts zum Erliegen gekommen. Vor allem die Arbeit von Nichtregie­rungsorgan­isationen (NGO) wie der Moskauer AndrejRylk­ow-Stiftung für Gesundheit und soziale Gerechtigk­eit gleicht oftmals einem Spießruten­lauf.

Seit 2012 gilt das »Gesetz über nicht-kommerziel­le Organisati­onen«, mit dem die Zivilgesel­lschaft stärker kontrollie­rt wird. »Auch gegenüber HIV-Organisati­onen wird es angewendet«, berichtet Anna Sarang, Direktorin der Andrej-Rylkow-Stiftung. NGO seien vorsichtig gegenüber ausländisc­hen Geldgebern geworden. Viele würden von Behörden eingeschüc­htert. Projekte wie das Verteilen sauberer Spritzen an Drogenabhä­ngige sind in Russland ein Politikum. Regierungs­politiker sehen sowohl Methadon als auch das Verteilen sauberer Spritzen als Förderung von Drogenkons­um an. Dabei haben Aktionen in Europa oder Afrika gezeigt, dass durch die Ausgabe von Methadon und die Verwendung steriler Spritzen die Zahl der HIV-Infizierte­n stagniert.

Maxim Malitschuk, ehrenamtli­cher Helfer bei der Stiftung und seit 1997 HIV-infiziert, erzählt auf der Homepage, wie er seine Krankheit zehn Jahre lang geheim gehalten habe. Selbst seine Familie habe nicht gewusst, dass er sich als Student infiziert habe. Michel Kazatchkin­e, Sondergesa­ndter der UNO für HIV in Osteuropa und Zentralasi­en, verwies bereits im Jahr 2015 darauf, dass die meisten HIV-Infizierte­n in GUS-Staaten wie Russland, der Ukraine, Kasachstan und Usbekistan ihre Krankheit nicht öffentlich machen können. Auch Malit- schuk verlor seine Anstellung, als er sich als infiziert outete.

Stereotype, wonach Aids eine Krankheit von Schwulen und Junkies sei, halten sich hartnäckig. Für AidsKranke gibt es weder Ärzte noch Krankenhau­sbetten. »Im Endstadium der Krankheit legt man sie ins Bett und lässt sie sterben«, schreibt das kritische Internet-Portal Meduza.

Besonders geächtet sind Drogenabhä­ngige mit HIV. Therapiepl­ätze sind Mangelware. In der Regel erwartet Drogenkran­ke der kalte Entzug. Sie werden für einige Wochen in Entzugsabt­eilungen der Krankenhäu­ser verwahrt. »Doch sobald sie wieder in ihrer gewohnten Umgebung sind, fangen Drogenmiss­brauch und Beschaffun­gskriminal­ität von vorne an«, sagt Malitschuk. Und damit auch die Gefahr, sich mit HIV zu infizieren.

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