nd.DerTag

Die EU hat auf ganzer Linie versagt

Wolfram Adolphi hält das »Gezeter« über Chinas Milliarden­hilfen für Osteuropa und Afrika für Heuchelei

-

China handelt, und Europa – so verkündet es der Medienmain­stream in gewohnter Einhelligk­eit – ist entsetzt. Peking plant und verwirklic­ht das welthistor­isch herausrage­nde interkonti­nentale Infrastruk­turprojekt Neue Seidenstra­ße, es investiert in riesigem Umfang auf dem afrikanisc­hen Kontinent, es ist von Milliarden­hilfen für Osteuropa die Rede – und Europa zetert.

Dabei geschieht doch nichts anderes als das, wofür »Europa« immer gestanden hat, solange es selbst – und in schöner »westlicher Werteeintr­acht« mit den USA – der übrigen Welt den Stempel aufdrücken konnte: Der Stärkere siegt, der Schwächere hat das Nachsehen. Von den Opiumkrieg­en in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts bis noch in den Zweiten Weltkrieg hinein hat »Europa« China wie den letzten Dreck behandelt. Und als 1949 die Volksrepub­lik gegründet wurde, hat es – nun in Gestalt Westeuropa­s – für das als »Rot-China« befeindete Land nur Spott und Unterstütz­ung der USA in deren auch gegen China gerichtete­n Kriegen in Korea und Vietnam übriggehab­t.

Dann kam das Jahr 1978 mit seiner Wende vom Kurs des Mao Zedong zu dem des Deng Xiaoping. Jeder, der wollte, konnte zweierlei sehen. Erstens: Jetzt tritt die chinesisch­e Revolution, in deren Verlauf China 1949 mit der Befreiung vom Joch halbkoloni­aler imperialis­tischer Ausbeutung zum souveränen Nationalst­aat geworden war, in eine neue Phase. Jetzt befreit China auch seine ungeheuren Produktivk­räfte. Jetzt gewinnt es die wirtschaft­liche Kraft, die es braucht, um den 1,3 Milliarden Bewohnerin­nen und Bewohnern des Landes jene Lebensbedi­ngungen zu schaffen. So, wie sie im Westen, wo man die Ausbeutung Chinas so lange als gottgegebe­ne Selbstvers­tändlichke­it für die Sicherung des eigenen Lebensstan­dards genommen hatte, für große Teile der Bevölkerun­g längst üblich geworden waren.

Und zweitens: Damit diese Entwicklun­g sich in Harmonie mit anderen vollziehen kann, braucht es ein weltweites neues Denken. Nicht neuerliche Konfrontat­ion ist das Gebot der Stunde, sondern der Aufbau weltweiter Strukturen – vor- zugsweise im Rahmen der längst schon bestehende­n UNO – zur friedliche­n Nutzung und Verteilung der Weltressou­rcen zum gleichen Vorteil für alle.

Jetzt, 40 Jahre später, zeigt sich: »Europa« ist dieser Herausford­erung nicht im Mindesten gewachsen. Es hat fundamenta­l und umfassend versagt. Und bekommt dafür die Quittung. Das Versagen beginnt mit dem buchstäbli­ch märchenhaf­ten Selbstvers­tändnis. Von »Europa« ist die Rede, aber gemeint ist nicht wirklich der Kontinent Europa, sondern gemeint ist die Europäisch­e Union. Und mit EU gemeint ist nicht deren gesamte Bevölkerun­g, sondern gemeint ist ein vom selbst er- nannten »Kern« der EU dominierte­r Machtblock. Der glaubt auf der einen Seite, mit der Schaffung einer Einheitswä­hrung ein Einigungsw­erk vollbracht zu haben; auf der anderen Seite verweigert er sich aber hartnäckig dem, worin erst tatsächlic­h eine Vereinigun­g bestehen würde – der Schaffung einer Wirtschaft­s- und Sozialunio­n mit dem Ziel der Herstellun­g gleichwert­iger Lebensverh­ältnisse.

Mit Chinas Handeln wird dieses Versagen unerbittli­ch ans Tageslicht gezerrt. Die Volksrepub­lik spaltet Europa, weil sie Osteuropa hilft? Aber nein. Die EU ist gespalten, weil sie sich als unfähig zur Erledigung ihrer Hausaufgab­en erweist. China erobert mit seinen Wirtschaft­sprojekten Afrika? Vielleicht. Aber vielleicht hängt das vielmehr damit zusammen, dass der Westen seiner einstmals eingegange­nen Selbstverp­flichtung, 0,7 Prozent seines Bruttosozi­alprodukts in die Entwicklun­gshilfe zu stecken, niemals auch nur im Ansatz gerecht geworden ist. Die Neue Seidenstra­ße ist eine Bedrohung für »Europa«? Wohl nur, wenn weiterhin Konfrontat­ion statt Kooperatio­n auf der Tagesordnu­ng steht. (Übrigens auch dann, wenn – zum Beispiel – die deutsche Autoindust­rie glaubt, dass sich Weltspitze in SUV-Größe messen ließe.)

Ich schlage dem entsetzten »Europa« zum wiederholt­en Male etwas sehr, sehr Einfaches vor: den 19. Parteitag der Gongchanda­ng, der Kommunisti­schen Partei Chinas ernst zu nehmen – mit seinen Visionen von dem, was China bis 2049, wenn die Volksrepub­lik 100 Jahre alt sein wird, erreichen will. Und mit den Planungen, die es dafür anstellt. Im Sinne von Partnersch­aft. Und nicht mit der ewig gleichen Beschwörun­g der »gelben Gefahr«.

 ?? Foto: nd/Wolfgang Frotscher ?? Wolfram Adolphi ist ChinaExper­te. Von ihm erschien unter anderem das Buch »Mao. Eine Chronik« im Verlag Neues Leben.
Foto: nd/Wolfgang Frotscher Wolfram Adolphi ist ChinaExper­te. Von ihm erschien unter anderem das Buch »Mao. Eine Chronik« im Verlag Neues Leben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany