nd.DerTag

Es mangelt an Bewusstsei­n

Yücels Anwalt übt Kritik an Menschenre­chtsgerich­t

- Von Regina Stötzel

Berlin. Einen Tag nach Eingang der türkischen Stellungna­hme zum Fall Deniz Yücel beim Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EGMR) konnte Yücels Anwalt Veysel Ok in Berlin noch keine Angaben zu deren Inhalt machen. Sie lag ihm noch nicht vor. Ok, der auf Einladung der Rechtsanwa­ltskammer Berlin zu einem Gespräch über die Lage der Justiz in der Türkei an die HumboldtUn­iversität gekommen war, machte deutlich, dass er große Hoffnung in den EGMR setzt. So sei dem Fall des »Welt«-Korrespond­enten Priorität eingeräumt worden und es seien treffende Fragen an die türkische Regierung formuliert worden – etwa ob es sich bei Yücel um einen politische­n Prozess handele.

Kritik übte Ok ebenso deutlich an der Institutio­n, die die Rechtmäßig­keit von Yücels Haft beurteilen soll. »Das Gericht ist sich seiner historisch­en Verantwort­ung nicht bewusst«, sagte er mit Blick auf die für Opposition­elle dramatisch­e Situation in der Türkei. Tausende Fälle seien abgelehnt worden und es werde »viel zu langsam« gearbeitet. Ok erwartet das Urteil zu Deniz Yücel, der bald 300 Tage ohne Anklagesch­rift in Isolations­haft bei Istanbul einsitzt, »mittelfris­tig« – und ließ offen, was das bedeuten könnte.

Derweil kann die Stellungna­hme der Türkei Aufschluss darüber geben, was inzwischen zusammenge­sucht wurde, um es Yücel zum Vorwurf zu machen. Als der sich am 14. Februar 2017 auf einer Istanbuler Woche gemeldet hatte, gab es da erstmal gar nichts, ist sich Ok sicher. Das sei aus der unbedarfte­n Befragung zu schließen gewesen. Um ihn zwei Wochen später in Untersuchu­ngshaft zu stecken, habe man lediglich schlecht übersetzte Artikel aus der »Welt« angeführt. Mit denen wurden die Vorwürfe »Terrorprop­aganda« und »Aufwiegelu­ng der Bevölkerun­g« (der türkischen, wohlgemerk­t) begründet. Jetzt, nach der Stellungna­hme, könne man logischerw­eise auch bald mit einer Anklagesch­rift rechnen. Nur stellte Ok gleich einschränk­end fest, dass in der Türkei derzeit nicht unbedingt mit Logik zu rechnen sei.

Und so klang es geradezu bitter bescheiden, als Ok sagte: »Unsere erste Forderung ist im Moment nicht die Freilassun­g, sondern ein Ende der Isolations­haft und das Vorlegen der Anklagesch­rift.«

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