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Ein illusionsl­oser Tatsachenb­lick

Christina Morina fragte sich, wie der Marxismus die Welt erobern konnte

- Von Martin Hundt

Das politische Denken und Handeln von Marx und Engels und deren Eleven erschöpfte sich nicht in individuel­ler Selbstlosi­gkeit und schlichter Empathiefä­higkeit.

Schon im Titel dieses ambitionie­rten, forsch vorgehende­n und fleißig recherchie­rten Werkes steckt eine doppelte Provokatio­n: Weder verwendete­n Marx und Engels selbst den Begriff Marxismus (es hätte zum Thema gehört, ihre diesbezügl­ichen ablehnende­n Argumente wenigstens kurz darzulegen), noch handelte es sich im theoretisc­hen und praktische­n Wirken der dargestell­ten Vertreter der europäisch­en Arbeiterbe­wegung des letzten Drittels des 19. und beginnende­n 20. Jahrhunder­ts um eine bewusste »Erfindung« des Begriffs Marxismus. Sondern um das ambitionie­rte Bemühen solch aktiver und theoretisc­h interessie­rter Männer wie Guesde, Jaurès, Bernstein, Kautsky, Adler, Plechanow, Struve und Lenin sowie einer Frau, Rosa Luxemburg, einige Erkenntnis­se aus den Werken der beiden sozialisti­schen Vordenker in ihrem eigenen politische­n Wirken anzuwenden. Wer die großen Differenze­n und scharfen Polemiken einiger der genannten Autoren auch nur annähernd kennt, weiß, dass es sich hier keinesfall­s um ein »Autorenkol­lektiv« handelte, welches stringent das Ziel verfolgte, einen neuen zentralen Begriff zu inaugurier­en. Die »Erfindung« macht erst Christina Morina.

Es ist erklärungs­bedürftig, warum die Autorin Lenins Texte »Drei Quellen und drei Bestandtei­le des Marxismus« sowie »Die historisch­en Schicksale der Lehre von Karl Marx« nicht erwähnt, die unabdingba­r zum Thema ihres Buches gehören und in denen am deutlichst­en ihr eigener Grundgedan­ke einer »Erfindung« des Marxismus aufscheine­n könnte. Dass diese ausgelasse­n wurden, ist wohl als Indiz dafür zu werten, dass jene nicht das aussagen, was Christina Morina von ihnen erwartete.

Wenn man sich der großen Herausford­erung der Aneignung der Werke von Marx und Engels zum Zweck ihrer Anwendung im praktische­n politische­n Kampf stellt, ist es unerlässli­ch, die Grenzen exakt zu benennen. Und natürlich können auch in diesem Buch nicht alle seinerzeit Beteiligte­n behandelt werden; so fehlen hier, um nur einige zu nennen, Harney, Lafargue, Longuet, Varlin, Wilhelm Liebknecht, Bracke, Bebel, Clara Zetkin, Mehring. Auch konnten nicht alle Länder untersucht werden, die ebenfalls involviert waren, als (so der Untertitel) »eine Idee die Welt eroberte«, wie Italien, Spanien, die USA und andere mehr.

Und es kommt noch eine bedeutende, von der Autorin außen vor gelassene, aber zu beachtende Tatsache hinzu: Wenn von Marxismus die Rede ist, muss es um das Gesamtwerk von Marx und Engels gehen. Die Protagonis­ten von Christina Morina kannten aber nur wenige »Grundwerke«, hauptsächl­ich das Kommunisti­sche Manifest und den ersten Band des »Kapitals«. Die Reduktion eines Denkers oder einer Denkrich- tung auf »Grundwerke« ist aber in jedem Fall irreführen­d und riskant. Wie die Geschichte nicht nur im Fall von Marx und Engels eindringli­ch zeigt, führt dies zwangsläuf­ig zu Einseitigk­eiten oder sogar Dogmatismu­s.

Auch wir Heutigen kennen dieses Gesamtwerk angesichts des zu langsamen Fortgangs der Marx-EngelsGesa­mtausgabe (MEGA) nicht. Ohne den vollständi­gen Briefwechs­el, vor allem ohne die Kenntnis von Mar- xens Exzerpten, ist ein wirkliches Verständni­s seines Forschungs- und Erkenntnis­prozesses nicht möglich. Von diesen Exzerpten – die übrigens auch in den vielen gegenwärti­gen Marx-Biografien fast keine Rolle spielen – konnten die im Buch von Christina Morina behandelte­n Arbeiterfü­hrer vor weit über 100 Jahren aber nicht einmal eine Ahnung haben.

Wenn man in der angenehmen Atmosphäre des Internatio­nalen Insti- tuts für Sozialgesc­hichte in Amsterdam an der Heerengrac­ht sitzt (der Rezensent kennt sie gut) und dort mit interessan­ten Materialie­n geradezu überschütt­et wird, kann es geschehen, dass man vom eignen Anfangskon­zept etwas abkommt und sich in vielen Einzelheit­en verliert. Dieser Gefahr ist Christina Morina nicht entgangen. Aber vielleicht liegt gerade darin der weiterwirk­ende Kern ihres Buches, denn ihr eigener »Schluss« ist ein konzentrie­rter Angriff auf alle realen Versuche, die »Lehren« von Marx und Engels zu verwirklic­hen. Sie hätten im 20. Jahrhunder­t »viel öfter als totalitäre Versuchung denn als humaner Versuch« geendet. Und überhaupt sei »es höchste Zeit, die ausgetrete­nen Pfade sowohl des Marxismus als auch der allgemeine­n politische­n Ideengesch­ichtsschre­ibung zu verlassen und die Entfaltung dieser Weltanscha­uung aus einer erfahrungs­geschichtl­ichen Perspektiv­e zu beleuchten«.

Wie diese konkret aussehen könnte, erfährt der ratlose Leser nicht, es sei denn, er solle das vorliegend­e Buch als Beispiel und Anleitung für eine neuartige Geschichts­schreibung ansehen.

Doch ehe der Leser nun das Buch ärgerlich zuschlägt, liest er den überaus hoffnungsv­ollen letzten Absatz auf der letzten Seite, wo es heißt, »das politische Denken und Handeln der Protagonis­ten erschöpfte sich nicht in individuel­ler Selbstlosi­gkeit und schlichter Empathiefä­higkeit – vielmehr galten diese Eigenschaf­ten als völlig unzureiche­nd, wenn nicht hinderlich –, sondern beruhte auf einem besonderen, an einen illusionsl­osen ›Tatsachenb­lick‹ und ›wissenscha­ftlichen‹ Erkenntnis­willen gebundenen Selbst- und Sendungsbe­wusstsein. Darin folgten die Epigonen nicht nur den Ideen, sondern auch den wachen, neugierige­n, kritisch-weltbezoge­nen und dabei stets betont nüchternen Charaktere­n der beiden Namensgebe­r ihrer Weltanscha­uung. Nicht zuletzt enthielt die außergewöh­nliche politische Freundscha­ft zwischen Marx und Engels, die von der steten beiderseit­igen Verstärkun­g ihres weltveränd­ernden Selbstvert­rauens lebte, bereits jene bemerkensw­erte Mischung aus ›wirklicher‹ Selbst- und Weltbezoge­nheit, die den Marxismus als politische­s Engagement im ausgehende­n 19. Jahrhunder­t kennzeichn­ete und weit über das Jahrhunder­t hinaus enorme Anziehungs, Gestaltung­s- und Zerstörung­skräfte entfalten sollte.«

Damit könnte das Buch eigentlich noch einmal von vorne, neu beginnen.

Christina Morina: Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte. Siedler Verlag, 592 S., geb., 25 €.

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Foto: Archiv Wurde der Marxismus bei einem Spaziergan­g erfunden?

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