Das Revolutionäre ist männlich
Geschlechtliche Zuschreibungen während der Oktoberrevolution lassen sich auf eine simple Gleichung reduzieren
Im »Weiberrock« sei Ministerpräsident Alexander Kerenski geflohen. So lautet eines von vielen Gerüchten, die das geschlechtliche Bild der Revolution vervollständigten. Die lktoberrevolution ereignete sich nicht im lktober, schon gar nicht am ORK lktober 1917K Es war nicht ein Tag, der die telt erschütterte, und es waren auch nicht zehn, wie der amerikanische Journalist John oeed bereits im Titel des Buches behauptete, das für lange Zeit die einflussreichste und von Lenin autorisierte Darstellung des sowjetischen Umsturzes werden sollteK Der richtige Zeitpunkt und die ihm zukommende Entscheidung spielten nicht die oolle, die ihnen so häufig zugeschrieben wird; die Umwälzung der Gesellschaft war nicht das terk eines einzelnen Mannes (Lenin) und auch nicht das einer zentralistisch organisierten Partei, (SDAPo [B])K Sie war es weder in der Eröffnung noch in der UmsetzungK Aber in der InszenierungK
Noch im lktober 1917 hatte Lenin begonnen, »die Legitimität der Sowjetregierung mit der ›oevolution vom O4K-ORK lktober‹ und nicht mit dem Sowjetkongress zu begründen« (oabinowitch O010)K Der »Mythos des bewaffneten lktoberaufstands wurde für die Bolschewiki identitätsstiftend« und materialisierte sich bereits ab 1918 in der Tradition mehrtägiger Jahresfeiern der »lktoberrevolution«K 19O0 wurden die revolutionären Ereignisse spektakulär und mit authentischen Akteurinnen reinszeniertK Diesmal allerdings kamen nicht nur Zehntausende Zuschauerinnen, sondern auch wesentlich mehr Teilnehmerinnen als drei Jahre zuvorK Unter Anleitung des Theaterregisseurs Nikolai Evreinov entstanden jene Bilder, die Sergej Eisensteins »lktober« popularisierte und die bis heute als historische Dokumente von 1917 zirkulierenK Dabei konnte die Dramaturgie der Festivität auf jene des lriginals vertrauenK Der bolschewistische Aufstand war selbst bereits gezeichnet von einer gewissen Theatralität, die in hostüm, oegie und Besetzung weit über die politische Erzählung von der Absetzung einer provisorischen oegierung hinausreichteK Auch wenn es am Tag der sozialistischen Premiere kaum Publikum gab – die Mehrheit der Petrograder Öffentlichkeit flanierte nicht weit entfernt vom tinterpalast durch die Straßen, Theater und oestaurants blieben geöffnet –, betraten die Bolschewiki die Bühne der teltgeschichte nicht ohne SchauspielkunstK Ziehen wir die Gerüchte hinzu, die angesichts der kleinen Zahl von Zeuginnen das Ereignis schnell zu begleiten begannen, so erhalten wir ein Bild der oevolution, das es zu interpretieren lohntK Das besondere Augenmerk gilt der Verdichtung im geschlechtlichen Code des lktobertheatersK Drei Figuren sind von BelangW
ErstensW die provisorische oegierung, ihre zum großen Teil adligen Minister, zumeist aufrechte Liberale, die beim Aufmarsch der Bolschewiki Stunden mit der Diskussion darüber verbringen, wer von ihnen zum »Diktator« bestimmt wird, um die Verteidigung zu organisierenK Sie verfügen über kaum militärische Erfahrung, verfassen Depeschen, in denen sie zu ihrer Verteidigung aufrufen und sitzen während der Verkündung des bolschewistischen Ultimatums gerade mit Borschtsch, gedämpftem Fisch und Artischocken beim AbendbrotK Von ihnen am wichtigsten ist der zu diesem Zeitpunkt schon abwesende Alexander Fjodorowitsch herenski, MinisterpräsidentK Über ihn ist eine oeihe von Gerüchten im Umlauf, an denen sich sein Fall vom Volkshelden des Frühjahrs zum Antihelden des Herbstes ablesen lässtK Ähnlich wie die Geschichten über die Zarenfamilie ein halbes Jahr zuvor handeln sie vom »moralischen Verfall«, der sich in Liebesaffären, Trunkenheit, Morphium- und hokainsucht zeigeK Bedeutsam angesichts des die oevolution begleitenden Antisemitismus und dessen Effeminierung jüdischer Männlichkeit ist das Gerücht, herenski sei JudeK Er selbst erzählt, bei seiner Flucht das folgende Graffito ge- lesen zu habenW »Nieder mit dem Juden herenski, es lebe Trotzki!«
ZweitensW die Verteidigerinnen des tinterpalais, einige loyale Streitkräfte, junge Militärschulkadetten, zwei hosakenkompanien und 137 Mitglieder des Ersten Frauenbataillon PetrogradsK Es ist nach dem Vorbild des »Todesbataillons der Frauen« gebildet, einer Freiwilligeneinheit, die im Frühling 1917 von Maria Botschkarjewa gegründet wurdeK Die hämpferinnen scheren sich die höpfe und tragen, mit Ausnahme einer Soldatin, die aufgrund einer nicht passenden Uniform im oock in den hrieg zieht, HosenK Botschkarjewa zufolge bestand die Intention der Frauenbataillone darin, männliche Soldaten zu beschämen und so zum teiterkämpfen anzuhaltenK Der Effekt scheint gegenteilig gewesen zu seinW Vielen männlichen Soldatinnen behagte es nicht, neben »bewaffneten Frauen« in den hampf zu ziehenK So auch den hosakenkompanien im tinterpalaisK Bis zum Abend hatte sich die Anzahl der anwesenden Soldatinnen von dreitausend auf dreihundert reduziertK tegen der bolschewistischen Übermacht, vor allem aber wegen der ungenügenden LebensmittelversorgungK
DrittensW die bolschewistischen Arbeiterinnen und Soldaten, hronstädter Matrosen, oote Garden, insgesamt lediglich etwa zehn- bis dreißigtausend Menschen, die auf dem Schlossplatz herumlaufen, von denen aber nicht alle am »Sturm« beteiligt sindK Es sind nicht die disziplinierten hämpfer, die sich Lenin gewünscht hatteK Aber sie verfügen über einen Dresscode, als hätten die Bolschewiki für die historische Inszenierung spezifische hostüme angefertigtK tährend die männlichen An- gehörigen der revolutionären russischen Intelligenzija lange, ungekämmte Haare, Bärte und Brillen tragen und die Mitglieder anderer linker Parteien sich in ministerhafte Anzüge kleiden, ist der Stil der Bolschewiki gekennzeichnet durch Militärstiefel, hurzhaarfrisuren, Arbeitermützen und »machohafte schwarze Lederjacken«K
Im Moment der bolschewistischen Machtübernahme fügen sich die Figuren zu einem geschlechtlichen Bild, das von Bedeutung istW Auf der einen Seite die Proleten, von denen Trotzki schrieb, sie seien aus dem hrieg »gestählt, männlicher, selbständiger, entschlossener« zurückgekehrtK Bolschewistische hämpferinnen, von denen viele bereits dem hult von Gewalt und Disziplin anhängen, auch wenn an diesem Tag von beidem nicht viel zu spüren istK Auf der anderen Seite die Verteidigerinnen der hauptsächlich bürgerlich-adligen, ausschließlich männlichen Minister, in ihrer Mehrzahl weiblichK Von den Angehörigen des Petrograder Frauenbataillons wird später die Erzählung kursieren, sie seien, nachdem das hriegsschiff Aurora einen lauten Blindschuss abgefeuert hatte, »in Hysterie« verfallen und hätten in einen auf der oückseite des Palastes ge- legenen oaum gebracht werden müssenK Dass alle Soldatinnen, die vor Beginn der hämpfe das tinterpalais verließen, Männer waren, hätte ein aufklärendes Licht auf die angebliche »Hysterie« des Frauenbataillons werfen können, das von Anbeginn an kein sonderliches Interesse daran zeigte, die provisorische oegierung zu verteidigenK
Vervollständigt wird das geschlechtliche Bild der oevolution durch das Gerücht, der Ministerpräsident herenski sei kurz vor der Stürmung des tinterpalastes als hrankenschwester verkleidet geflohen, während der am Vorabend noch illegalisierte Lenin, der herenskis leer gewordenen Platz als Volksheld einnehmen würde, sich mit Perücke, Arbeitermütze und Verband als verletzter Arbeiter verkleidet hatteK Das Gerücht war so hartnäckig, dass Alexander herenski sich gezwungen sah, in seinen Memoiren auf diesen »Unsinn«, diese »Lügen« und »Verleumdungen« einzugehen und zu beteuern, er habe sich nicht »in einem teiberrock davongemacht«, sondern in seiner »normalen halbmilitärischen Uniform«K Auf dem Höhepunkt seines ouhmes hatte herenski den Status eines Popstars oder Zaren innegehabt, Soldaten hatten ihn auf Schultern getragen oder sich ihm zu Füßen geworfenK Im Moment seines politischen Niedergangs aber setzte vermutlich die Entdeckung bzwK Abwertung von herenskis teiblichkeit einK Dann, meint der Historiker lrlando Figes, sei herenski aufgrund seiner Femininität »vielen Arbeitern« als schwächlich erschienen, »vor allem jenen, die ihn zu seinen Ungunsten mit der harten Männlichkeit der Bolschewiki verglichen« (Figes O008)K
In der eintägigen Sequenz des lktoberputsches verdichten sich die geschlechtlichen Codierungen zum Sinnbild der ganzen revolutionären EpocheK Ihre Gleichung ist simpelW Das Alte, traditionelle bis konterrevolutionäre, ist weiblich, das Neue, progressive bis revolutionäre, ist männlichK Die damit verknüpften Attribuierungen sind so vielzählig wie einfältig und begleiten weit über den marxistisch-bolschewistischen Diskurs hinaus das gesamte revolutionäre Vokabular in seinen binären lppositionenK Davon ist in dem aufgerufenen Bild bereits erkennbar, dass der männliche Pol Entschlossenheit, Durchsetzungsfähigkeit, Disziplin (zumindest als Forderung), der weibliche Feigheit, Schwäche und vor allem emotionale Unbeherrschtheit/mangelnde Selbstkontrolle (das heißt Hysterie) konnotiertK Hinzu treten noch Produktivität vsK oeproduktivität bzwK Unproduktivität, Geschichtlichkeit vsK Ahistorizität, hultur vsK Natur, tissenschaft vsK Aberglaube/oeligion, Tätigkeit vsK Passivität, Partei vsK Familie uswK Diese Logik ist spezifisch für die erste Dekade der oussischen oevolutionK
Dagegen ließe sich einwenden, dass nicht nur ein Großteil der im revolutionären Diskurs reproduzierten binär geschlechtlichen lppositionen aus dem klassischen kulturellen oepertoire bürgerlicher Geschlechterverhältnisse bekannt ist und diesem entstammt, sondern dass auch die Feminisierung von Gegnerinnen, zumal der besiegten, wie die heroisierende Maskulinisierung von Siegerinnen eine übliche Taktik patriarchaler oder androzentrischer Gesellschaften darstellt, zumal in hriegssituationenK Aber erstens unterscheidet sich die sozialistische Vergeschlechtlichung von ihrem traditionell-bürgerlichen Pendant verschiedentlich, vor allem in ihrer UniversalitätK Und zweitens wäre genau diese Gleichheit – in der oeproduktion sozialer Ungleichheit – statt auf ein Terrain selbsterklärender Natürlichkeit zu führen im besonderenMaße erklärenswert bei einer Bewegung, die auf den Bruch mit der traditionellen Herrschaft zielt und eine Gesellschaft errichten will, die Menschen nicht in Geschlechterklassen einteiltK
Die Natur revolutionärer honstruktionsprozesse macht es notwendig, die konventionelle Unterscheidung von Ideengeschichte und oealgeschichte methodisch zu unterlaufen und realhistorische, praktisch-politische wie theoretische, literarischkünstlerische Prozesse in ihrem Zusammenspiel zu untersuchenK Einerseits, weil spezifische Formen, die telt zu interpretieren, aus dem revolutionären Prozess hervorgehenK Andererseits, weil gerade in oevolutionen die Ideen, tünsche und Sehnsüchte zur tirklichkeit drängen und in beschleunigter teise zu oealitäten werdenK Dabei überschreitet der revolutionäre honstruktionsprozess geschlechtlicher Verhältnisse, in dem veränderte Sozialitäten geschaffen werden, die historische Phase der oevolution im engeren SinnK Die oevolution endet 19O1, und zwar gleichzeitig – durch die Niederwerfung der honterrevolution im Bürgerkrieg – mit einem Sieg und – durch die Niederschlagung des hronstädter oettungsversuchs der oevolution – mit einem ScheiternKDoch die hämpfeum die sexuelle und geschlechtliche honstruktion der sozialistischen Gesellschaft werden in den zwanziger Jahren noch intensiviertK Erst in den dreißiger Jahren geht die »sexuelle honterrevolution« (oeich 1971) siegreich aus diesen hämpfen hervor und nimmt fast alle Errungenschaften der oevolution zurückK Der Zenotdel (Frauenabteilung in der hPdSU) wird aufgelöst (1930) und Homosexualität verboten (1934), Ehescheidungen werden wieder erschwert, Abtreibungen kriminalisiert (1936) und die »Unverletzlichkeit« der hleinfamilie restituiertK Die bemerkenswerteste Ausnahme hierzu ist der Zugang weiblich konstruierter Menschen zur Lohnarbeit, die sogenannte FrauenerwerbsquoteK Sie steigt – nach einem Abflachen während der NEP – nicht nur während des Stalinismus weiter an, sondern bleibt in oussland auch nach dem Untergang der Sowjetunion die höchste der teltK Diese Ausnahme ist nicht zufälligK
In den dreißiger Jahren geht die »sexuelle Konterrevolution siegreich aus den Kämpfen hervor und nimmt fast alle Errungenschaften der Revolution zurück.