Im freien Fall
Der Jörg-Huffschmid-Preisträger 2017 über den Verfall der Türkischen Lira, Zinspolitik und den Wirtschaftsboom
Die Türkische Lira verliert wieder dramatisch an Wert.
Herr Dr. Şener, um das Geld ist es derzeit nicht so gut bestellt in der Türkei. Die Lira schwächelt zwar schon seit einer Weile, aber im Moment hat sie einen historischen Tiefstand erreicht. Was ist da los? Seit 2013 verliert die Lira stetig an Wert. Vor vier Jahren stand sie bei 2,75 gegenüber dem Euro. Wenn man das mit dem heutigen Kurs vergleicht, ergibt sich ein 70-prozentiger nominaler Wertverfall, gegenüber dem USDollar summiert sich der Verfall sogar auf 95 Prozent.
Der Kursverlust in den letzten zwei Monaten markiert jedoch tatsächlich einen historischen Tiefstand. Deshalb ist das Thema gerade sowohl in der Öffentlichkeit als auch in akademischen Debatten sehr präsent. In Umfragen in der Türkei nimmt die wirtschaftliche Entwicklung den ersten Platz der wichtigen Themen ein. Über die Ursachen herrscht aber keine einheitliche Meinung. Es gibt sowohl interne Faktoren als auch externe Gründe. Aber wenn man den Vergleich zu anderen Schwellenländern zieht, in denen durchaus auch Kursverfall zu verzeichnen ist, ist die Türkei tatsächlich auf Platz eins, was den Kursverfall der Währung betrifft. Das bedeutet sicherlich, dass der dramatische Kursverfall vor allem etwas mit den derzeitigen politischen und ökonomischen Entwicklungen in der Türkei zu tun hat.
Die Türkische Lira befindet sich im freien Fall. Die Gründe dafür erläutert Ulaş Şener, der am Mittwoch mit dem Jörg-HuffschmidPreis 2017 ausgezeichnet wird.
Was genau sind denn die Gründe? Ist zum Beispiel etwas dran an der These, dass der Prozess in den USA gegen den iranisch-türkischen Geschäftsmann Reza Zarrab etwas damit zu tun hat, in den auch die türkische Halkbank verwickelt ist? Viele politische Kommentatoren und auch politökonomische Experten sehen da durchaus einen Zusammenhang. Niemand kann derzeit absehen, welche politischen und ökonomischen Auswirkungen dieses Verfahren in der Türkei haben wird. Eins ist jedoch gewiss: Die bereits existierende Unsicherheit im Land nimmt damit nicht ab. Hinzu kommt aber, dass sich in den vergangenen Monaten auch global eine Veränderung abzeichnete. Die US-Notenbank FED hat einen neuen Vorsitzenden, und da gibt es erste Anzeichen, dass eine geldpolitische Wende bevorsteht. Wahrscheinlich ist eine Entwicklung weg von der sogenannten unkonventionellen Geldpolitik mit sehr niedrigen Zinsen zu vorsichtigen Zinserhöhungen. Es gibt also eine globale Dimension, aber trotzdem: Was gerade mit der Lira passiert, lässt sich nicht nur auf internationale Entwicklungen zurückführen.
Was spielt denn noch eine Rolle? Der Wertverlust der Lira hat vor allem mit den strukturellen makroökonomischen Merkmalen der türkischen Wirtschaft zu tun. Beispielsweise importiert die Türkei immer noch viel mehr, als sie exportiert. Mehr als 70 Prozent der Importe bestehen aus Zwischenprodukten und Rohstoffen für die Türkei und auch aus Kapitalgütern. Die türkische Wirtschaft ist stark integriert in die globalen Wirtschafts- und Wertschöpfungsketten und muss importieren, um überhaupt produzieren und selbst exportieren zu können. So wird eine stetige Negativrechnung erzeugt, von der ein permanenter Abwertungsdruck auf die Währung ausgeht. Das ist ein strukturelles Prob- lem. Hinzu kommt, dass die Ölpreise wieder steigen. Der Kurs liegt derzeit bei 62 US-Dollar pro Brent. Steigende Energiepreise heizen die Inflation in der Türkei besonders an.
Wir haben vom »historischen Tiefstand« geredet. Das bezieht sich natürlich nur auf die Neue Türkische Lira, die es seit 2005 gibt. Die »alte« Lira war phasenweise extrem instabil, in den 1990er Jahren gab es ständig galoppierende Inflation. Wie wurde dieses Problem denn gelöst?
Das stimmt. Historisch betrachtet hat die Lira seit den 1980er Jahren eigentlich durchgehend hohe zweistellige Verfallswerte verzeichnet, man kann vor einer »chronischen Inflationsproblematik« sprechen.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2001 – die bis dahin schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit Bestehen der Türkischen Republik – hat dann zu einem Schnitt des Akkumulationsmodells geführt, das sich in den 1980er und 1990er Jahren etabliert hatte. Und die Konsequenzen aus dieser Krise hatten auch Folgen für die Geldpolitik. Unter anderen gab es die Zentralbankreform, um die es in meiner Arbeit geht. Aber auch andere Faktoren haben zu einem Rückgang der Inflation geführt: Das Staatsbudget wurde restrukturiert. Umfangreiche Privatisierungen und neoliberale Arbeitsmarktreformen haben den Druck auf die Löhne erhöht. Fallende Löhne und eine rückläufige Nachfrage haben dazu beigetragen, dass es deflationäre Tendenzen gibt, dann sinkt auch die Inflation. Ausschlaggebend war aber vor allem, dass das mit Unterstützung des IWF umgesetzte Programm zur Krisenbewältigung hohe Realzinsen vorsah, und das hat Kapital angelockt, was wiederum die Lira aufgewertet hat. In der Türkei herrscht zwischen Wechselkursentwicklung und Inflation ein starker Zusammenhang.
Die damalige Bewältigung der Inflationsproblematik wurde als Erfolg der AKP betrachtet, oder? Unterm Strich war seit 2001 die Inflation tatsächlich rückläufig. Mit der Geldreform 2005 und dem Streichen der sechs Nullen sollte dieser neue Kurs noch einmal untermauert werden. Im Grunde hat die AKP in ihren ersten beiden Legislaturperioden den wirtschaftspolitischen Konsolidierungskurs der vorherigen Koalitionsregierung eigentlich nur weitergeführt. Die Senkung der Inflation ver- bucht die AKP, die seit Anfang 2003 regiert, jedoch als Erfolg für sich. Viele Menschen haben die chronische Inflation der 1980er und 1990er nicht vergessen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass 2001 die Geldpolitik der Türkei formal entpolitisiert wurde, indem die Zentralbank unabhängig wurde. Ihre These ist aber, dass Unabhängigkeit nicht unbedingt auch Entpolitisierung bedeutet. Was meinen Sie damit?
Zunächst muss man diese Reform der Zentralbank in einem größeren Kontext sehen. Unabhängige Zentralbanken sind nicht gänzlich neu, aber seit den 1980ern weltweit dominanter geworden. Viele Zentralbanken wurden in dieser Zeit für unabhängig erklärt, so auch die englische oder die französische. Die türkische Zentralbank hat dann mit etwas Verspätung diesen Schritt ebenfalls durch einen legislativen Akt vollzogen.
Meine These aber ist, dass Geldpolitik prinzipiell etwas Politisches ist und dass das mit der Funktion und dem Wesen des Geldes zu tun. Meine Untersuchung hat dann auch gezeigt, dass die Autonomie der Zentralbank eine formale ist. Ich nenne das – in Entlehnung eines Begriffs aus der materialistischen Staatstheorie – »relative Autonomie«. Das trifft auch auf die Europäische Zentralbank zu.
Es gab erst kürzlich wieder Berichte darüber, dass Präsident Erdoğan unzufrieden sei mit der Zinspolitik der Zentralbank und mehr direkten Einfluss wolle. Ist das nur Gepolter oder steckt mehr dahinter?
Ich würde sagen, es steckt auch mehr dahinter. Mit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/08 hat sich der geldpolitische Kurs weltweit verschoben. Die Türkei ist zu einer sogenannten Null-Realzins-Politik übergegangen. Ab Ende 2009 lagen die Zinsen nicht mehr über der Inflationsrate, und die nominellen Zinsen haben nicht mehr die erhofften Realrenditen gebracht. Die türkische Regierung war sich in dieser Frage aber nicht immer eins.
Inwiefern?
Es gab eine starke Fraktion, die den Standpunkt vertrat, man müsse so für geringe Kreditkosten sorgen, damit wieder mehr investiert werden kann. Das stößt aber auf ein strukturelles Problem im Außenhandel, weil die Leistungsbilanz weiterhin im Defizit ist; das heißt, man braucht irgendwoher Geld, Kapital, um den Importüberhang bezahlen zu können. Wenn aber keine positiven Realzinsen angeboten werden, dann steht man natürlich vor der Frage: Womit will man internationales Kapital ins Land holen? Das ist der Punkt, der auch aktuell diskutiert wird.
Viele Experten prognostizieren, dass bei den derzeitigen Leitzinsen der Zentralbank der Kursverfall weitergehen wird. Um dem entgegenzusteuern, soll ein flexibler Zinsrahmen mit einer Obergrenze von 15 Prozent eingeführt werden. Das würde einerseits vielleicht die Währung stabilisieren, aber andererseits bedeutet das dann wieder eine Belastung für diejenigen, die verschuldet und abhängig von Krediten sind. Das ist also ein zweischneidiges Schwert. Und da herrscht ein struktureller Konflikt auch zwischen den Wirtschafts- und Kapitalfraktionen, weil unterschiedliche Branchen unterschiedlich betroffen sind.
Abgesehen von der Inflation sind die jüngsten Wirtschaftsdaten gut. Das Wachstum geht weiter. Ist das eigentlich eine Überraschung?
Ich denke, dass diese positive Einschätzung stark mit dem Indikator des Bruttoinlandsprodukts zusammenhängt. Die Türkei hatte letztes Jahr circa 3,2 Prozent Wirtschaftswachstum, und dieses Jahr stehen die Prognosen bei 5 bis über 5,5 Prozent. Andere Daten wiederum geben Anlass für eine skeptischere Einschätzung. Die Arbeitslosigkeit hat einen Höchststand erreicht in den letzten fünf Jahren, sie liegt derzeit bei 11 Prozent. Das ist die offizielle Arbeitslosigkeitsrate. In der Türkei ist das Phänomen der verdeckten Arbeitslosigkeit weitverbreitet und die tatsächliche dürfte viel höher liegen. Die Auslandsverschuldung ist auf über 51 Prozent des BIP gestiegen, das sind circa 450 Milliarden US-Dollar, und auf die Türkei warten im kommenden Jahr sehr hohe Rückzahlungen für anstehende Verbindlichkeiten. Wir haben also ein widersprüchliches Bild: einerseits Wachstum, andererseits sich verschlechternde makroökonomische Daten. Zu fragen ist auch, was die Quelle des Wachstums ist.
Was denn?
Die AKP betreibt eine autoritäre neoliberale Wirtschaftspolitik. Einerseits wurden Gewerkschaften nachhaltig geschwächt. Es herrscht weiterhin ein hoher Druck auf die Löhne. Andererseits werden sehr viele Bau- und Infrastrukturprojekte – Brücken, Straßen, Staudämme und Wohnungsbau – verfolgt, die dem Populismus der Regierung eine gewisse materielle Basis liefern. Dies kann eine Zeit lang durchaus ein Wachstum generieren und Arbeit schaffen in bestimmten Sektoren. Aber wir wissen aus Erfahrung, auch hier in Ostdeutschland, dass Infrastruktur nicht per se nachhaltiges Wirtschaftswachstum bringt. Es ist sehr fraglich, wie lange das noch so gut gehen kann.
»Die AKP betreibt eine autoritäre neoliberale Wirtschaftspolitik. Einerseits wurden Gewerkschaften nachhaltig geschwächt. Es herrscht weiterhin ein hoher Druck auf die Löhne. Andererseits werden sehr viele Bau- und Infrastrukturprojekte verfolgt, die dem Populismus der Regierung eine gewisse materielle Basis liefern.«