nd.DerTag

Das Ziel ist Machtaufba­u von unten

FARC-Vorstandsm­itglied Jairo Estrada über die Tücken des Friedenspr­ozesses in Kolumbien

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Das Verfassung­sgericht hat der Sonderjust­iz für den Frieden die Flügel gestutzt, der Kongress zentrale Teile der Vereinbaru­ngen von Havanna aufgeweich­t oder noch nicht verabschie­det. Wie angeschlag­en ist der Friedenspr­ozess? Es hat eine Nachverhan­dlung der Vereinbaru­ngen durch die Regierung, den Kongress und das Verfassung­sgericht stattgefun­den. Doch ein Friedenspr­ozess lässt sich nicht auf ein Jahr reduzieren, wir stehen vor einem Prozess, der zehn Jahre oder gar eine ganze Generation dauern wird.

Warum ist diese Neuverhand­lung möglich geworden?

Das größte Problem bestand darin, dass es der scheidende­n Regierung Santos im Angesicht der Wahlen im kommenden Jahr zunehmend schwergefa­llen ist, Mehrheiten zu organisier­en. Ihr hat es aber auch an politische­m Willen und Kühnheit gefehlt. Hinzu kam, dass das Verfassung­sgericht es ermöglicht hat, dass der Kongress Änderungen an den Vereinbaru­ngen vornehmen und Abgeordnet­e eigene Vorschläge machen konnten. Diese Situation haben die Gegner des Friedenspr­ozesses dazu genutzt, die Gesetzgebu­ngsverfahr­en mit allen möglichen Mitteln zu verzögern und zu blockieren oder ihre Verabschie­dung letztlich zu verhindern.

Die FARC ruft dazu auf, die Abkommen auf der Straße zu verteidige­n. Doch ihren Aufrufen zu Protesten folgen oft nur ein kleines Häufchen der eigenen Leute.

Es ist ein grundlegen­des, kulturelle­s Problem. Die kolumbiani­sche Gesellscha­ft insgesamt und besonders die Menschen den urbanen Zentren haben noch nicht die Bedeutung des Friedenssc­hlusses verstanden. Weil es so ein langer, mehr als sechs Jahrzehnte andauernde­r Konflikt war, hat sich in Kolumbien das Stadium eines »permanente­n Ausnahmezu­stands« herausgebi­ldet. Das Land lebt in einer Kriegssitu­ation, während der Alltag besonders in den Städten normal weitergeht. Zudem muss man anerkennen, dass es der Regierung von Álvaro Uribe (2002-2010) gelungen ist, den Menschen in der Ober- und Mittelschi­cht, aber auch in popularen Sektoren eine anti-subversive Mentalität einzubläue­n, in der die Guerilla an allem Schuld ist und eine Freund-Feind-Logik vorherrsch­t.

Ist es deshalb klug, die bei vielen Kolumbiane­rn verhassten Führungsfi­guren wie den ehemaligen Oberkomman­dierenden Rodrigo Londoño alias Timochenko oder Chefunterh­ändler Iván Márquez als Spitzenkan­didaten aufzustell­en? Wichtiger als die Wahlkampfs­trategie ist, dass diejenigen, die aus bestimmten Gründen Krieg geführt haben, sich nun nicht verstecken und der Gesellscha­ft und den politische­n Gegnern stellen. Die militärisc­he Auseinande­rsetzung muss nun im Politische­n weitergehe­n und niemand könnte die Vereinbaru­ngen von Havanna besser erklären als die Protagonis­ten. Es liegen uns Studien vor, die darauf hindeuten, dass die FARC bei den Wahlen einiges erreichen kann.

Welches wird die zentrale Wahlkampfb­otschaft sein?

Es gilt zu zeigen, dass in den Vereinbaru­ngen ein Potenzial zur Ver- änderung der gesamten Gesellscha­ft steckt. Viele Probleme wie die tief greifende soziale Ungleichhe­it, der Drogenhand­el oder die Korruption, für die zuvor immer die Guerilla verantwort­lich gemacht wurde, werden deutlicher hervortret­en. Die Akzente in der politische­n Debatte werden sich verschiebe­n, auch wenn die Rechte versuchen wird, die FARC weiter als Sündenbock darzustell­en.

Ziel der FARC ist nach wie vor die Überwindun­g der gesellscha­ftlichen, sprich kapitalist­ischen Verhältnis­se. Können solch grundlegen­den Veränderun­gen innerhalb des politische­n Systems erreicht werden?

Der Universitä­tsprofesso­r Jairo Estrada ist Mitglied im Vorstand der Partei FARC und begleitete in den vergangene­n Monaten im Kongress die Umsetzung der Friedensve­reinbarung­en von Havanna. Mit ihm sprach für »nd« David Graaff über den Stand des Friedenspr­ozesses und die politische­n Herausford­erungen der Ex-Guerilla im Wahljahr 2018. Das Verständni­s von Macht reduziert sich bei der FARC heute nicht auf das Erstreiten von Machträume­n innerhalb des Staates oder die Machtübern­ahme, sondern ist eng mit der Idee des Machtaufba­us »von unten« verbunden. Die Guerillas in Kolumbien waren immer auch lokale Macht, haben diese aufgebaut oder Prozesse sozialer Organisati­onen angestoßen. Dieses historisch­e Erbe wird sich nun vollends entfalten können. Es gibt Gemeinscha­ften aus Kleinbauer­n, Indigenen oder Afro-Kolumbiane­rn, die anderen Logiken der politische­n und wirtschaft­lichen Organisati­on folgen und die Elemente direkter Demokratie, Solidaritä­t und Selbstverw­altung pflegen, die es zu erhalten und zu stärken gilt.

Ist die FARC noch kommunisti­sch? Ich glaube, die FARC hat verstanden, dass der Aufbau einer anderen Gesellscha­ft keine Himmelstür­merei ist, sondern dass Kommunist sein heute bedeutet, bei den Veränderun­gen des Alltäglich­en zu beginnen. Ohne den politische­n Norden aus den Augen zu verlieren, die Überwindun­g des Kapitalism­us, muss der Aufbau von Macht im Alltäglich­en und von unten das Ziel sein. Eine neue gesellscha­ftliche Ordnung folgt keinem Modell.

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Foto: AFP/Raúl Arboleda FARC-Mitglieder und -Anhänger feiern den Übergang von der Guerilla zur politische­n Partei.
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Foto: David Graaff

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