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Immer am Ball bleiben

Ehemalige Hamburger Lehrerin und Handballtr­ainerin steht mit 90 Jahren noch mitten im Leben

- Von Volker Stahl, Hamburg

Die frühere Lehrerin Gerda Seyffarth, inzwischen 90Jahre alt, ist dem Handball seit 82 Jahren verbunden und auch sonst eine ungewöhnli­che Frau. Wer rastet der rostet. Gerda Seyffarth zitiert dieses Sprichwort zwar nicht, aber Menschen wie ihr dürfte es zu verdanken sein, das dieses geflügelte Wort zum Zitatensch­atz der deutschen Sprache gehört.

Seit 82 Jahren ist die quirlige Seniorin im Handball aktiv, zunächst als Spielerin auf dem Großfeld, später als Trainerin in der Halle. Eine Mannschaft coacht die frühere Lehrerin für Sport und Englisch an Grund-, Hauptund Realschule­n zwar nicht mehr, doch als Betreuerin des 4. Herrenteam­s des SC Alstertal-Langenhorn ist sie immer noch aktiv: »Ich sitze auf der Bank, gucke, was die falsch machen und schreibe anschließe­nd einen Bericht.« Manchmal läuft sie auch aufs Parkett, etwa wenn sich ein Spieler verletzt hat: »Ich frage dann: Tut es wirklich weh oder brauchst du nur eine Pause?«

Ihre Leidenscha­ft für den Sport, ihr Engagement als Lehrerin und Trainerin und ihr Humor haben sie im Verein und bei ihren ehemaligen Schülerinn­en und Schülern zu einer Legende werden lassen, der ein goldener Stern im Fußboden vor der Sporthalle ihres Vereins gewidmet ist. Ende August, anlässlich ihres 90. Geburtstag­s, wurde die »Grande Dame« des Hamburger Handballs mit Glückwünsc­hen überhäuft. Eine frühere Mädchenman­nschaft sendete ihre fil- mische Grüße aufs Smartphone, das sie mit flinken Handbewegu­ngen bedient. »Schauen Sie mal, ist das nicht süß – ich habe vor Freude fast geweint, als ich das zum ersten Mal gesehen habe«, kommentier­t sie die minutenlan­ge Huldigung.

Dass sich ihre Freundinne­n der neuen Technik verweigern, ärgert Gerda Seyffarth: »Alle in meinem Alter sagen: Nee, ein Handy will ich nicht«, seufzt sie und sagt: »Kann ich nicht verstehen, die nehmen sich ja das halbe Leben. Die werden ja mo- derne Analphabet­en!« Sie selbst bleibt dagegen am Ball. Seit acht Jahren steht Spanisch auf ihrem Stundenpla­n. Die Sprache hatte sie 1938 im Gymnasium angefangen zu lernen – jetzt will sie sie wieder auffrische­n und beschäftig­t sich täglich eine halbe Stunde mit Vokabeln, Grammatik und der Lektüre der Zeitschrif­t ECOS. Bei allem Bemühen bleibt sie aber Realistin: »Es geht mir eher darum, das einmal Gelernte nicht zu vergessen. Neue Vokabeln zu behalten, fällt mir sehr schwer.«

Bis 67 hat sie gearbeitet: »Ich hatte Spaß an meinem Beruf und hätte gerne noch weitergema­cht.« 2002 fing sie mit dem Malen an, seit kurzem schreibt sie ihre Vita auf: »Ich bin aktuell im Jahr 1941 bei der Kinderland­verschicku­ng.« Ihre Erinnerung­en an die Nazis schildert sie ohne zu beschönige­n: »Ich war eine überzeugte Nazi und hatte mit 14, 15 Jahren die Führerscha­ft über zwölf Mädchen.« Als junges Mädchen bekam sie mit, wie Frauen in gestreifte­r Kleidung aus dem Fuhlsbütte­ler Gefängnis in Ohlsdorf auf eine Verladeram­pe verbracht wurden. Sie fragte ihre Mutter, was das zu bedeuten hätte und bekam zur Antwort: »Die gehen zur Arbeit.« Heute weiß Gerda Seyffahrt, dass sie Zeugin einer Deportatio­n in ein Konzentrat­ionslager wurde. Obwohl sie bei Kriegsende erst 17 Jahre alt war, wollte sie etwas gutmachen und hält heute Vorträge in Schulen: »Meist schildern Zeitzeugen dort diese Zeit ja aus der Opferpersp­ektive – ich erzähle, wie ich Adolf Hitler auf dem damals nach ihm benannten Rathauspla­tz gesehen habe und viele Mädchen kreischend in Ohnmacht fielen – wie heute beim Auftritt einer Boygroup.« Ihr Rat an die heutige Jugend: Verstand einschalte­n!

»Kann ich nicht verstehen, die nehmen sich ja das halbe Leben. Die werden ja moderne Analphabet­en!«

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Foto: STAHLPRESS Gerda Seyffarth

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