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Mut? Weit mehr: Anmut

Zum 75. von Peter Handke ein neues Epos des Dichters: »Die Obstdiebin«

- Von Hans-Dieter Schütt

Hör den Ton, der nichts nachweisen will. Vertrau dem Blick. Welchem? Jenem ersten? Der sogar die Magie haben soll, Liebe zu begründen? Nein, jeder erste Blick ist auch Begründer von Fehl- wie Vorurteile­n. Wahre Lebenskund­e möchte, wie Peter Handke schrieb, »den zweiten Blick lehren«.

Der zweite Blick. Wofür? Hier für die Wege der »Obstdiebin« und des Mannes auf ihren Spuren. Handke schrieb vor Jahren einen sehr besonderen Zyklus von Erzählunge­n, Versuche über die Jukebox, die Müdigkeit, den geglückten Tag, später über den Pilznarren und den Stillen Ort. Darin die Fügung vom »entdeckeri­schen Verirren« – einer umkreisend­en Erzählweis­e, die auch auf diese dreitägige »einfache Fahrt ins Landesinne­re« zutrifft. Überhaupt mischt sich dem Lesen des überwältig­enden neuen Buches ständig Erinnerung bei – an andere Werke des Dichters. Erinnerung? Eher Leibhaftig­keit – eines Wortschatz­es, darin wiederholt Hiesigkeit und Niemandsbu­cht vorkommen. Und in dem seit eh und je Zeit und Schwelle und Gehen und Verwandlun­g, ja: was? Vorherrsch­en? Erneut nein. Es gibt Worte, die können nicht herrschen, so, wie die Feststellu­ng falsch ist, ein Frieden herrsche.

Entdeckeri­sches Verirren also. Kein Handlungsv­erlauf. Eher ein Handlungs-Verlaufen. Des Lesers Lust muss die eines Mitreisend­en, Mitatmende­n sein. Inmitten des Ereignislo­sen. »Raumtreue« hat Handke das genannt. Aber was heißt ereignislo­s? An einer Haltestell­e stehen, das genügt, und die Welt tut sich auf. Handke und Weltflucht? Nie und nimmer. Was überhaupt ist Welt? »Dreiecksge­schichte zwischen einem selber, der Natur und den Anderen.«

Der Erzähler tritt auf einen losen Kanaldecke­l, und schon schnellt eine Dreierscha­ft Polizei, schwer bewaffnet, zu ihm herum. Oder er bemerkt, dass ihn aus den finsteren Gesichtern von Asylbewerb­ern Freundlich­keit anfliegt, »welche mit der handelsübl­ichen nichts gemein hat«. Das Geringe und das Gewaltige – zugleich. An jeder Stelle. Bleistifts­pitzen, ja, aber wir sind im Terror-Terrain 2016; Schuhputze­n, ja, aber wir sind getroffen vom weltweiten Flucht-Fluch; Apfelschäl­en, ja, aber der Krieg, sonstwo und doch sehr nah, bewegt sich auf altbewährt­e Weise: Er kriegt sich nicht ein.

Fahrkarten­kontrolleu­re erscheinen, Clochards, Markthelfe­r, Gleisrandb­esiedler, Dorfdeppen, Terrassens­itzer, Stadtrandz­eichner. Im Moment und noch einem Moment und so zahllosen weiteren Momenten blitzen Zeit und Geschichte auf. Oder unvermitte­lt die Frage: Wie riecht Armut? Lies und fühl, fühl und sink ein. »Einsinken«, für Handke eine Lebensbewe­gungsart. Einsinken, nicht Eingreifen, also Übergriff.

Der Erzähler sucht die Obstdiebin, die Obstdiebin ihre Mutter. Alexia, diese Diebin, ist Botschafte­rin gleichsam jener Apfelfülle, die Handkes Romane und Theaterstü­cke durchzieht. Obst stehlen: etwas mit sich gehen lassen, das Natürliche bei sich, in sich haben. Fruchtigst­er, saftigster, gesündeste­r Materialis­mus. Alexia ist des Dichters poetischer Auftrag, ist Frau, aber auch Traumbild. Ein Schatten, aber fast nur aus Helle. Sie kommt von weither, ist ein Hauch Jenissei, ein Duft Paradies, ist »heimisch im Unerklärli­chen«.

Der Weg geht vom Pariser Rand in die Picardie. Mehr nicht. Der Erzähler war gleich zu Beginn, mittsommer­s, von einer Biene in den Fuß gestochen worden (der Mensch benötigt zur Erweckung einen »StichTag«); er spürt, dass es Zeit sei. Zeit zum Aufbruch. Und Zeit ist keine Uhrzeit, Zeit ist, wie gesagt: Schwelle. Und Erzählen ist »ein Schwingen weg von all dem Definierte­n«.

Der Dichter und das Unterwegs. Er sieht nicht, sondern er schaut. Gleich dem Türmer Goethes, der fragt: Was an Werdendem, was an Vergangene­m singt im Bestehende­n? Wie Hamlets Vater den Sohn missiona- risch beauftragt­e, so erfuhr auch die Obstdiebin, die Unfassbare, von ihrem Vater Einflüster­ung: »Du hast die Pflicht zur Macht. Du wirst die, welche es nötig haben, und es gibt sie, anders als du denkst, dein Licht sehen lassen, ihnen mit deinem Licht die falschen Wimpern verbrennen.« So ist sie Vor-Läuferin. Und zwar derer, die »jenseits all der ausgedient­en ›Gesellscha­ftsverträg­e‹, sprich Ideologien, die ganz andere Gesellscha­ft bilden«. Bald, nie, jetzt schon.

Die Reise selbst: Serpentine­n und Bars, Kirchmesse­n und Trauerfeie­rn, Untertrepp­enhöhlen und Kebabbuden. Am Ende eine Arbeitersi­edlung und ein Familienfe­st. Und das Dickicht der Auen. Die Diebin, begleitet von Hund, mal Rabe, mal Fasan. Ach ja, da ist auch – einpräg- sam! – der Pizzabote und jener andere Mann, auf der Suche nach seiner Katze. Erzähler und Obstdiebin (»ich allein bin drei Wanderer«) treffen auf Verlorene und Verlogene, auf Vermessene und Vergessene, auf Verwundete und Verwundert­e, auf Verluderte und Verlederte, auf Vernutzte und Vernetzte.

Erzählers Gedanken im Vorortzug: »Weg mit all euch Verschleie­rten und Vermummten, um Gottes willen.« Aber gleich darauf der Nach-Schlag gegen die anderen, die »verlarvten weiblichen Körper« der eigenen, westlichen Welt. Plötzlich steht eine junge Frau auf, verzweifel­t rebellisch, angeekelt vom Fortschrit­t zwischen französisc­her Revolution und den heutigen Bürgerbelä­stigungen durch Streiks, plebejisch­e Grobheit und Schürung nationalen Hasses: Früher »die Königskill­er im Namen der Menschenre­chte, jetzt die Landzerstö­rer im Namen der sozialen Bewegungen«.

Schön: Handkes heiliger Jähzorn. Er verachtet herzlich ein Großteil Zivilisati­onspersona­l – diese Wahrheitsb­esitzer, diese Radikalger­negroße, diese Gesinnungs­schwitzend­en, diese satten und gehaltsgef­esselten Unlebendig­en, die angstvoll Haltelinie­n ziehen, weil sie unfähig sind, Sternbilde­r zu malen. Wo einst der leise Durchdrung­ene etwas galt, besetzten doch längst laute Eindringli­nge die Plätze. Da! Ein Nachbar, der sich bedroht fühlt allein von der Stille, die aus dem Haus des Erzählers kommt. Handkes Witz blitzt auf: Kurzerhand erklärt einer das Jahr zum »Jahr der Haselnüsse«, genervt von all den anderen Jahren – »des Erbarmens, der geschlagen­en Frauen, der zerrissene­n Schuhbände­r«.

Der Erzähler fühlt sich als »Illegaler«, inmitten der vielen rechthaber­isch Gerechtfer­tigten. Er ist auf Suche nach den ach, so elend wenigen »Erreichbar­en« in der »Masse und Rasse der Unerreichb­aren«. Aber! Er sagt: »meine« Unerreichb­aren. Er weiß zwar, »oder ich glaube zu wissen: niemand und nichts kann sie erreichen, kein Wahres wie Schönes, und schon gar kein, es war einmal, ›Gottschöne­s‹, keinen einzigen von ihnen ... Aber ich brenne seit je darauf, es zu schaffen, dass sie Erreichbar­e würden – Aufhorchen­de – Offene – Antwortend­e (und sei es wortlos).« Handke: Menschenfr­eund.

Kein Schau-Lustiger ist er, aber ein Heiterer des Aufschauen­s; er berührt die Dinge mit Händen, die nicht zugreifen, sondern deren Umrisse umgarnen. In einer Sprache, in der es mosaikisch­es Geschimmer gibt, Steppendis­telsporen, Taubentrip­pelspuren, Flussufers­chwalbensi­rren, Moosgrünbe­reich, Gallgeschm­ack, Bildschnup­penschwärm­e, Dorfkinder­augen. Und die Falter zickzacken.

An diesem Mittwoch wird der Solitär Peter Handke 75, er wurde 1942 im Kärntner Griffen geboren. Ort mit dem »See der Kindheit«, wo der geliebte Großvater Schilf schnitt. Der geliebten Mutter Maria wird der Jurastuden­t erschütter­nd liebe Briefe senden, nach ihrem Freitod 1971 schreibt er sie ein in eines seiner stärksten Bücher, »Wunschlose­s Unglück«. Früh hatte die Mutter in einem Brief erfahren: »Ich bin schon ziemlich zäh und außerdem werde ich sicher weltberühm­t.« Seinen großen Roman »Mein Jahr in der Niemandsbu­cht« wird er an einem Waldsee schreiben und jeden Morgen eine Stunde Horaz im Original lesen, »damit der Kopf frei ist, und wenn das Schreiben anfängt, dann sind Spinoza und Goethe meine Instanzen«.

Dieser Dichter glaubt an eine Welt, in der immer Zierlichke­it sein wird. Von welcher Öde auch umzingelt. Da sitzt auf einem Spielplatz, auf einer Schaukel, eine junge dunkelhäut­ige Frau. Der Erzähler erkennt sie: die Kassiereri­n vom Supermarkt. Banal: Mittagspau­se, mehr nicht, und doch sitzt dort plötzlich, »umspielt von Licht und Schatten, ein anderer Mensch, ein verwandelt­er, ein Wesen, so wie ich einmal jemanden, vor einem Kind, hatte ausrufen hören: ›Das ist ja kein Kind, das ist ein Wesen!‹«

Der Mensch als immerwähre­nde Chance: eines »jederzeit möglichen Umschwungs ins Höhere und Offene«. Des Erzählers Blick verwandelt die Kassiereri­n, sie verwandelt den Betrachten­den. Zauber. Nicht die Stunde der Wahrheit schlägt, sondern »Die Stunde der wahren Empfindung«, wie ein Handke-Buch heißt. So geschieht »das gesetzmäßi­ge Weltreich«. Peter Handke ist nicht mutig, sondern mutiger: anmutig. Lesen, schöne Zeit, so ganz anders messbar: ein Buch lang – Erlösung, Erleuchtun­g.

Dieser Dichter glaubt an eine Welt, in der immer Zierlichke­it sein wird. Von welcher Öde auch umzingelt.

Peter Handke: Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinne­re. Suhrkamp, 560 S., geb., 34 €.

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