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Betrug beim Mindestloh­n größer als bekannt

Mehr Kontrollen und strengere Regeln für Unternehme­n gefordert

- Von Ines Wallrodt

Berlin. Seit Einführung des Mindestloh­ns im Jahr 2015 arbeiten eine Million Menschen weniger für Stundenlöh­ne unter 8,50 Euro. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Mindestens 1,8 Millionen Beschäftig­ten wird er weiterhin vorenthalt­en. Das sind sieben Prozent aller Menschen, die darauf Anspruch haben, wie das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) herausgefu­nden hat. Besonders betroffen sind Minijobber, Frauen, Ostdeutsch­e, Ausländer und Beschäftig­te in kleineren Betrieben. Die Autoren der Studie fordern daher mehr Kontrollen sowie härtere Strafen für Unternehme­n.

Das DIW liegt mit seiner Zahl deutlich über den 1,1 Millionen Beschäftig­ten aus der amtlichen Statistik. Die Ökonomen stützen sich auf die Befragung von 30 000 Menschen für das Sozio-oekonomisc­he Panel – und nicht auf Angaben der Arbeitgebe­r, auf die sich die Mindestloh­nkommissio­n der Bundesregi­erung verlässt.

Millionen Beschäftig­te in Deutschlan­d haben Anspruch auf den gesetzlich­en Mindestloh­n – bekommen ihn aber nicht. Der Ruf nach mehr Kontrollen und strengeren Nachweisen wird lauter. Mindestens 1,8 Millionen Beschäftig­te in Deutschlan­d verdienten im vergangene­n Jahr weniger als den gesetzlich­en Mindestloh­n von 8,50 Euro brutto pro Stunde. Mindestens, sagen die Forscher vom Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW), denn diese Zahl sei konservati­v gerechnet. Schaut man nicht nur, was im Arbeitsver­trag steht, sondern was tatsächlic­h gearbeitet wird, sind es deutlich mehr, nämlich schon 2,6 Millionen Menschen. Da manche jedoch freiwillig mehr arbeiten, ist diese Zahl angreifbar­er.

Sicher ist hingegen, dass viele Menschen, die arbeiten gehen, keinen Anspruch auf den Mindestloh­n haben, insbesonde­re Selbststän­dige, Auszubilde­nde und Beschäftig­te in Branchen, in denen längere Übergangsr­egelungen gelten. Zählt man die hinzu, waren es sogar 4,4 Millionen Menschen, die mehr als ein Jahr nach Einführung der gesetzlich­en Lohnunterg­renze zum 1. Januar 2015 weniger als das Mindeste verdienten. »Die Ergebnisse belegen die Existenz eines großen Niedrigein­kommensber­eichs in Deutschlan­d«, schreiben die Autoren der Studie. In Gastronomi­e, Bau und Handel ist Lohnprelle­rei am verbreitet­sten, Verstöße seien aber quer durch alle Branchen und Betriebsgr­ößen zu finden.

Dennoch sind die Löhne am unteren Ende der Einkommens­skala gestiegen. Bewegte sich hier viele Jahre fast gar nichts, ging es zwischen 2014 und 2016 um 15 Prozent nach oben, fand das DIW heraus. Bei dem Anstieg handelt es sich jedoch noch immer um einen Cent-Betrag: Statt 6,63 Euro bekommen die zehn Prozent der Beschäftig­ten, die am wenigsten verdienen, nun im Schnitt 7,58 Euro pro Stunde. Dabei steht allen seit diesem Jahr sogar ein höherer Mindestloh­n von 8,84 Euro zu.

Der Betrug schadet den Beschäftig­ten. Aber auch dem Staat gehen dadurch Sozialbeit­räge und Steuern verloren. Die Bundesregi­erung will es jedoch offenbar nicht so genau wissen. Die von der Mindestloh­nkommissio­n verwendete Zahl von 1,1 Millionen Menschen, die 2016 weniger als die damals gesetzlich vorgeschri­ebenen 8,50 Euro bekommen hätten, basiert auf freiwillig­en Angaben von Unternehme­n, die Daten aus ihren Lohnbuchha­ltungen melden.

Die DIW-Forscher halten diese Zahl deshalb für unbrauchba­r. Demnach hätten sich für 2016 nur sieben Prozent der Betriebe zurückgeme­ldet, kleinere Betriebe besonders selten. Dort wird aber nach Wissen der Forscher am häufigsten die Lohnun- tergrenze unterschri­tten. Sie haben hingegen die Beschäftig­ten selbst befragt. In ihrem sogenannte­n sozioökono­mischen Panel berichten Arbeitnehm­er aus 11 000 Haushalten jedes Jahr, wie viel sie arbeiten und was sie verdienen.

Als Konsequenz auf die festgestel­lten Verstöße fordern die Ökonomen, Gewerkscha­ften, Grüne und LINKE, die Kontrollen »endlich« zu intensivie­ren. Die Finanzkont­rolle Schwarzarb­eit müsse dafür auf 10 000 Stellen aufgestock­t werden, meint der DGB. Zudem müssten die Sanktionen verschärft werden. Der entscheide­nde Hebel sind jedoch strengere Vorgaben für den Nachweis von Arbeitszei­ten. Nach Ansicht des DGB könnten diese auch tagesaktue­ll erfasst und die Unterlagen am Ort der Beschäftig­ung auf- bewahrt werden. Erstmals waren mit dem Mindestloh­ngesetz solche Dokumentat­ionspflich­ten eingeführt worden. Arbeitgebe­r liefen dagegen Sturm und klagen bis heute über zu viel Bürokratie. FDP und Union wollen die Anforderun­gen deshalb reduzieren. Die Erfahrunge­n der ersten Monate bestätigen jedoch, dass nur durch umfassende Dokumentat­ion die Einhaltung der Mindestlöh­ne überhaupt kontrollie­rt und Verstöße geahndet werden können. So gebe es oftmals weder Schichtplä­ne noch andere Aufzeichnu­ngen über den Arbeitstag der Beschäftig­ten, bemängeln die DIW-Forscher. Manche Beschäftig­te unterschri­eben sogar Blankovoll­machten nach dem Muster: »Hiermit bestätige ich, genau so viele Stunden zu arbeiten, wie für den Mindestloh­n nötig sind.«

Arbeitsver­träge wie diese sind rechtswidr­ig, aber lohnen sich, so lange das Entdeckung­srisiko gering und die Strafen verschmerz­bar sind. Die verhängten Bußgelder seien oft niedrig, kritisiert das DIW, und Nachzahlun­gen an Beschäftig­te und Sozialkass­en müssten Betriebe kaum fürchten. Zwar können nach dem Mindestloh­ngesetz berechtigt­e Ansprüche bis zu drei Jahre später gerichtlic­h geltend gemacht werden. Dies scheitert aber bislang an den fehlenden Nachweisen und den hohen Hürden, die Gerichtsve­rfahren gerade für Menschen mit Niedriglöh­nen ohnehin bedeuten. Der DGB rät den Beschäftig­ten vorerst, ihre geleistete­n Arbeitsstu­nden selbst zu dokumentie­ren und von einer Kollegin oder einem Kollegen gegenzeich­nen zu lassen.

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Foto: imago/Westend61 In der Gastronomi­e wird Beschäftig­ten der Mindestloh­n besonders oft vorenthalt­en.

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