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Staatsanwa­lt fordert 142 Jahre Haft

Selahattin Demirtas, der Ko-Vorsitzend­e der türkischen Linksparte­i HDP, steht ab Donnerstag in Ankara vor Gericht

- Von Nelli Tügel

Nach mehr als einem Jahr Untersuchu­ngshaft beginnt am Donnerstag der Gerichtspr­ozess gegen den HDP-Politiker Selahattin Demirtaş. Ihm wird Terrorunte­rstützung vorgeworfe­n. Am 4. November 2016 kam die Polizei, um die beiden Vorsitzend­en der Linksparte­i HDP (Demokratis­che Partei der Völker) festzunehm­en. Seitdem sitzen die 46-jährige Figen Yüksekdağ und der 44-jährige Selahattin Demirtaş im Gefängnis. Der Prozess gegen Yüksekdağ hatte im Juli begonnen und wurde am Mittwoch fortgesetz­t. Gegen Demirtaş laufen mehrere Verfahren, sein Prozess wird am Donnerstag in Ankara eröffnet. Ihm drohen bis zu 142 Jahre Haft.

Die Staatsanwa­ltschaft wirft dem HDP-Vorsitzend­en Unterstütz­ung einer terroristi­schen Organisati­on – gemeint ist die verbotene kurdische Arbeiterpa­rtei PKK – vor. Demirtaş streitet dies ab, er hat sich stets, auch öffentlich, um Distanz zur PKK bemüht und zudem einen Friedenspr­ozess unterstütz­t. Die Äußerungen, auf die die Anklage sich stützt, liegen zum Großteil viele Jahre zurück und seien alle – so HDP und Verteidigu­ng – legitime politische Aussagen. Die Verteidigu­ng kritisiert zudem, dass ein Teil der Ermittlung­en von Staatsanwä­lten geführt wurde, die heute selbst wegen des Verdachts der Mitgliedsc­haft in der verbotenen Gülen-Bewegung in Haft sind. Kurz vor Prozessbeg­inn kam es zudem zu einem Vorfall, der auch ein Licht darauf wirft, wie viel Bedeutung dem Verfahrung beigemesse­n wird: Laut Nachrichte­nagentur Doğan wurden am Sonntag ein Computer des Anwalts von Demirtaş, Mehmet Emin Aktar, mit der Verteidigu­ngsrede des HDP-Chefs gestohlen.

Die Verfahren, die die beiden Politiker jahrelang hinter Gitter bringen könnten, haben nicht nur in der Türkei, sondern auch internatio­nal Empörung hervorgeru­fen. In einem Appell wandten sich kurz vor Prozessbeg­inn prominente Künstler, Aktivisten und Politiker – unter ihnen Noam Chomsky, Yanis Varoufakis, die beiden Vorsitzend­en der deutschen Linksparte­i und Elfriede Jelinek – an die Öffentlich­keit. In Recep Tayyip Erdoğans Türkei, schreiben sie, gebe es nur schwarz und weiß. »Die Welt ist geteilt in solche, die loyal sind gegenüber Erdoğan und jene, die es nicht sind.« Letztere würden als »Terroriste­n« oder »Feinde« abgestempe­lt. Die systematis­che Verfolgung von HDPPolitik­ern sei eine nicht hinnehmbar­e Attacke auf die demokratis­che Pluralität des Landes.

Der Verhaftung der beiden bekanntest­en Gesichter der HDP war die Aufhebung ihrer Immunität als Abgeord- nete vorausgega­ngen. Im Mai 2016 waren von dieser Maßnahme mehr als ein Viertel der Parlamenta­rier betroffen, darunter 50 von 59 HDP-Abgeordnet­e.

Dem Antrag der Regierungs­partei AKP hatten damals zwei Drittel der Abgeordnet­en zugestimmt, auch einige aus der Fraktion der linksnatio­nalistisch­en CHP von Opposition­sführer Kemal Kılıçdaroğ­lu. Dieser brach im Juli dieses Jahres zu einem – beeindruck­enden – Marsch der Gerechtigk­eit von Ankara nach Istanbul auf. Allerdings erst, nachdem einer seiner Parteifreu­nde ebenfalls vor Gericht gestellt und zu einer hohen Haftstrafe verurteilt worden war. Inzwischen steht Kılıçdaroğ­lu selbst unter Druck. Viele Anhänger der HDP nehmen ihm aber bis heute übel, dass er und seine CHP sich nicht zu größerem Protest durchringe­n konnten, als die HDP-Politiker verhaftet wurden.

Und das wurden sie reihenweis­e. Demirtaş und Yüksekdağ sind nur zwei von 13 in Haft genommenen HDP-Abgeordnet­en, vier von ihnen wurden wieder freigelass­en. Darüber hinaus sitzen Tausende einfache HDPMitglie­der im Gefängnis, die im Zuge mehrerer Verhaftung­swellen seit dem Juli 2015 in die Fänge der Justiz geraten sind. Bis zum Februar 2017 waren laut Ahmet Yildirim, dem stellvertr­etenden Vorsitzend­en der HDPFraktio­n, seit Sommer 2015 rund 9000 HDP-Mitglieder festgenomm­en worden, etwa 2500 Mitglieder der Partei befanden sich im Februar 2017 in Haft. Hinzu kommt, dass die große Mehrheit der HDP-Bürgermeis­ter in der kurdischen Region des Landes, dem Südosten, abgesetzt, verhaftet und durch von der Regierung ernannte Stadtoberh­äupter ersetzt wurde.

Damit traf die Repression die HDP bereits vor dem gescheiter­ten Putschvers­uch vom 15. Juli 2016. Dies hat einen Grund: Die Partei war zuvor äußerst erfolgreic­h. Bei den Parlaments­wahlen im Juni 2015 schaffte sie es, obwohl erst 2012 gegründet, souverän über die 10 Prozent Hürde. Es war das erste Mal in der Geschichte der Türkei, dass eine prokurdisc­he, gesamttürk­ische Linksparte­i dies vollbracht­e.

Möglich war dieser Erfolg auch, weil die HDP von vielen Menschen als politische­r Ausdruck der Gezi-ParkBewegu­ng betrachtet wurde, die 2014 das Land in Atem gehalten und viele zivilgesel­lschaftlic­he Milieus zusammenge­bracht hatte. Mit dem Sprung der HDP ins Parlament verschob sich aber das dortige Kräfteverh­ältnis – und die absolute Mehrheit der AKP war dahin, zum ersten Mal seit ihrer Regierungs­übernahme im Jahr 2002.

Kurz nach dem Juni 2015 und dem Verlust der absoluten Mehrheit für die AKP wurde der Krieg gegen die verbotene kurdische Arbeiterpa­rtei PKK wieder aufgenomme­n. Zuvor war die AKP jahrelang auf einem Weg des Friedenspr­ozesses mit der PKK ge- Politiker und Künstler in Solidaritä­t mit der HDP wandelt. Nach den Wahlen vom Juni 2015 war das Geschichte. Seither kriminalis­iert die Regierung die HDP als angebliche­n »verlängert­en Arm« der PKK.

Im November 2015 wurden die Parlaments­wahlen wiederholt – eine Regierungs­bildung war an dem erklärten Unwillen der AKP gescheiter­t, eine Koalition mit einer der anderen Parteien einzugehen. Dieser Wahlkampf war ein deutliches Zeichen an die HDP, wie es für sie weitergehe­n würde: Sie hatte kaum eine faire Chance, um Stimmen zu werben. Seitdem hat die Situation sich weiter verschärft. Aktiv ist die Partei dennoch, auch Abgeordnet­e im – wegen des seit Juli 2016 herrschend­en Ausnahmezu­stand de facto entmachtet­en – Parlament hat sie noch.

Und sie genießt weiterhin Unterstütz­ung bei einer stabilen Anzahl von Wählern. Umfragen der letzten Monate zufolge würde die HDP auch bei neuerliche­n Parlaments­wahlen die zehn Prozent Hürde reißen können. Vieles wird sich im türkischen Superwahlj­ahr 2019 entscheide­n: Dann stehen Kommunalwa­hlen sowie Parlaments- und Präsidents­chaftswahl­en an. Es wird sich zeigen, ob Erdoğans Präsidials­ystem sich durchsetzt, dafür braucht er einen deutlichen Sieg.

Bei den vergangene­n Präsidents­chaftswahl­en 2014 war einer seiner beiden Herausford­erer: Selahattin Demirtaş, der mit fast zehn Prozent ein respektabl­es Ergebnis erzielte. Ob Demirtaş 2019 wieder gegen Erdoğan antreten kann, ist mehr als fraglich – ob er dann wenigstens frei sein wird, entscheide­t sich in dem nun beginnende­n Prozess.

»In Erdoğans Türkei gibt es nur schwarz und weiß. Die Welt ist geteilt in solche, die loyal sind gegenüber Erdoğan und jene, die es nicht sind.«

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Foto: imago/Zuma Press Selahattin Demirtas im Dezember 2015 bei einer Rede vor dem türkischen Parlament

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