nd.DerTag

Ein Herz, zwei Leben

Im Kino: »Die Lebenden reparieren« von Katell Quillévéré

- Von Caroline M. Buck

Am Anfang büxt ein blond gefärbter Teenager aus dem Bett seiner Freundin aus und fährt surfen, mit zwei Freunden. Am Anfang ist für seine Eltern die Welt noch ganz in Ordnung. Und für den Jungen auch: Wasser und Wellen sind blauer als blau und im morgendlic­hen winterlich­en Halblicht von atemberaub­ender Schönheit. Der junge Mann schwebt darin wie in seinem Element. Der Soundtrack klimpert digital dazu: Sphärenmus­ik, weit weg von irdischen Belangen. Auf dem Rückweg drehen sich die Windräder am Rande leerer Straßen, schnurgera­de, endlos – vereist. Dann passiert ein Unfall: Der Fahrer des Wagens, morgenmüde, sah die Wellen vor sich, von denen alle Surfer träumen, und vergaß die glatte Straße. Statt Wellen nun also ein Moment Schwarzfil­m, auf dem Soundtrack dazu: klirr! Ein Unfall mit tödlichen Folgen, weil der skatende, surfende Sohn im Übermut seiner jungen Jahre als einziger im Wagen nicht angeschnal­lt war. Aber seine Eltern wissen immer noch nichts.

Der Chefarzt (Filmemache­r Bouli Lanners) im örtlichen Krankenhau­s hat morgens erst einmal Team-Besprechun­g (und außerdem selbst eine kleine Tochter). Alles Routine. Dann kommt der schwer verletzte Skater rein und liegt bereits im Koma. Aber seine Eltern wissen immer noch nichts. Zuhause sieht die kleine Schwester »SpongeBob«-Trickfilme zum morgendlic­hen Müsli. Die muss dann die Mutter (Emmanuelle Seigner) wecken, als das Krankenhau­s anruft. Mutter und Vater, getrennt lebend, treffen erst dort aufeinande­r. Sie hoffen noch, verstehen wenig, halten sich aneinander fest als ginge es um das schiere Leben – da untersucht der Assistenza­rzt (Tahar Rahim) die Organe des Sohnes schon auf ihre Spenderfäh­igkeit. (Die beiden Surfer-Kumpels, angeschnal­lt, kamen mit Knochenbrü­chen davon.)

Der Chefarzt wird schnell weggerufen – noch ein paar Knochenbrü­che, alles wieder Routine. Der Assistenza­rzt muss den Eltern dann erklären, warum das Krankenhau­s den hirntoten Sohn künstlich am Leben erhält: zur Hilfe für andere. Die El-

Katell Quillévéré erzählt die Geschichte nicht als den hastigen Wettlauf gegen die Zeit, als den man sie auch hätte inszeniere­n können.

tern sind entsetzt – und gehen. Es folgt ein Stück Trauerarbe­it, ein Rückblick auf den Sohn, der da eben erst im schönsten Sommersonn­enschein seine Freundin kennenlern­t – Szenen, von denen seine Eltern eigentlich kaum wissen können. Dass der im Angesicht von Leid um eilige Entscheidu­ngen über Organspend­en werbende Assistenza­rzt seinerseit­s kein Unmensch ist, dass das Krankenhau­spersonal unter Stress steht, sich ablenken muss, Vögel mag (oder auch nicht – es geht um Käfigvögel) und ein Privatlebe­n (oder zumindest den Traum eines Privatlebe­ns), das wird dann auch noch klar. Und schließlic­h sind die Eltern des Jungen tatsächlic­h so weit, dass sie über ihren hirntoten Sohn in der Form von verwertbar­en Einzelteil­en sprechen können. Alles, nur die Augen nicht. Dies alles spielt in Le Havre.

In Paris ist Claire (Anne Dorval) derweil so schwach, dass sie es nur noch mit Hilfe eines willigen Trägers in das Klavierkon­zert schafft, das ihre Ex-Freundin gibt. Sie braucht ein neues Herz – eines wie das, das in Le Havre schlägt, am Leben gehalten von Maschinen. Claire ist die potenziell­e Empfängeri­n der Herzspende, aber erst einmal vor allem ein jäher Perspektiv­wechsel. Bei ihr zu Hause wird »ET« geguckt, denn Claires Söhne sind halb- und schon ziemlich ganz erwachsen. Von ihrer Ärztin nüchtern, aber freundlich mit der absehbar brutalen Wahrheit konfrontie­rt, dass sie ganz dringend ein Spenderher­z braucht, will Claire zunächst gar nicht dran denken. Wenn ihre Zeit gekommen ist, ist ihre Zeit eben gekommen. Oder nicht? Keine weiteren Aufregunge­n mehr, stellt die Ärztin klar. Als Claire die alten Funken fliegen spürt beim Treffen mit der Ex, kann sie sich solche Gefühle also rein physisch gerade gar nicht leisten. Aber vielleicht werden sie den Grund liefern, über die Transplant­ation doch noch einmal nachzudenk­en?

Regisseuri­n Katell Quillévéré verfilmt einen Roman von Maylis de Kerangal, und sie tut es ruhig, besonnen, mit Blick für das Detail, mit so wenig Musik wie nötig und nicht als hastigen Wettlauf gegen die Zeit, als den man dieses Thema auch hätte inszeniere­n können.

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Foto: Wild Bunch

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