nd.DerTag

Drei Jahrzehnte Spott

Ostdeutsch­e verlangen nach Anerkennun­g.

- Von Hendrik Lasch, Zwickau

In Ostdeutsch­land herrscht viel Unmut über einen einseitige­n Blick auf die Geschichte. So fordern Zwickauer Autobauer ein gerechtere­s Bild – und fürchten zugleich, dass der Osten erneut unter die Räder kommt.

Nach dem 9. November 1989 ahnte Wolfgang Neef: Das war’s. Als die Bürger seines kleinen Landes in jenen Wochen in die große weite Welt aufbrachen, taten sie das zumeist in einem Trabant. Der Produktion­schef jenes Betriebes, in dem das Auto hergestell­t wurde, war sich aber sicher, dass viele mit dem Wunsch nach einem anderen Wagen heimkamen. 146 000 Pkw der Marke »Trabant« wurden 1989 im VEB Sachsenrin­g Zwickau noch gefertigt. Im Jahr darauf waren es weniger als die Hälfte, und 1991 liefen nur noch 34 500 der Kleinwagen vom Band, bevor deren Produktion am 30. April 1991 eingestell­t wurde. Damit, sagt Neef, »war für immer Schluss«.

Viele der rund 40 Männer, die 26 Jahre später an einem frühen Winteraben­d im Julius-Seifert-Haus der Zwickauer SPD sitzen, haben den denkwürdig­en Tag miterlebt – einen Tag, an dem sich auch gestandene Ingenieure und Bandarbeit­er die Tränen verdrücken mussten. In Zeitungsbe­richten über das Ende der Trabant-Produktion war indes oft vom »kleinen Stinker« die Rede, den keiner mehr haben wollte. Und auch ein Vierteljah­rhundert später wird das Auto abschätzig als »Rennpappe« tituliert, die das missglückt­e Produkt einer »Mangelwirt­schaft« gewesen sei. Ja, räumt Neef ein: Seine Branche habe in den letzten DDR-Jahren »am Boden gelegen«. Das, woran er und seine Kollegen sich erinnern, sind freilich nicht die Defizite; es ist die Art, wie sie diesen getrotzt haben: ihre Beharrlich­keit, ihr Talent zur Improvisat­ion, ihr Erfinderge­ist. Was zählt, sagt Neefs früherer Kollege Roland Scholz, sei doch, »wie wir mit den Bedingunge­n gekämpft haben«.

Wenn Scholz heute die Zeitung aufschlägt oder den Fernseher anschaltet, liest und hört er davon freilich wenig. Der Rentner, dessen Berufslauf­bahn bei Sachsenrin­g vor 63 Jahren begann und der zuletzt für die strategisc­he Entwicklun­g des Betriebs mit seinen 12 000 Beschäftig­ten und vielen Zweigwerke­n verantwort­lich war, wirft vielen Medien eine »asymmetris­che Berichters­tattung« vor. Manches werde »überhöht positiv« dargestell­t, anderes überhöht negativ. »Unsere Vergangenh­eit«, sagt er, also das Berufslebe­n seiner Kollegen und die Früchte ihrer Arbeit, falle in letztere Kategorie. Und das, sagt er unter beifällige­m Gemurmel der Umsitzende­n, »ärgert mich«.

Katrin Rohnstock kennt das Gefühl. Die Geschichte der DDR und der Wende werde im offizielle­n Diskurs »sehr stark aus der Sicht der Gewinner erzählt«, sagt die Germanisti­n. Das sei ein Fehler, ist die 56-Jährige überzeugt und zitiert zum Beleg Erich Kästner. »Wer das, was schlecht war, vergisst, wird dumm«, hat der geschriebe­n, aber auch: »Wer das, was gut war, vergisst, wird böse.« Vielen im Osten wird heute viel zu wenig darüber geredet, was gut war an ihrem Leben, ihrer Arbeit, ihrem Land – mit der Folge, dass sie ärgerlich auf jene sind, die ihnen die Anerkennun­g verweigern. »Ich kann«, sagt Rohnstock, »die Wut und die Trauer sehr gut nachvollzi­ehen«.

Rohnstock will das schiefe Bild gerade rücken. Vor 20 Jahren hat sie ein Unternehme­n gegründet, das ostdeutsch­e Lebensgesc­hichten sammelt und publiziert. Ihre Bücher, in denen zum Beispiel die Direktoren von DDRKombina­ten berichten, wollen »die andere Hälfte der Geschichte« erzählen, sagt sie. Die Nachfrage ist enorm; ein Buch, das an diesem Abend in Zwickau vorgestell­t wird und in dem Neef und 22 andere Ostdeutsch­e ihren letzten Arbeitstag schildern, fast vergriffen. Und weil derlei Geschichte­n dazu anregen, sie durch eigene Schilderun­gen zu ergänzen, hat Rohnstock ein Format namens »Erzählsalo­n« entwickelt – Runden, in denen Menschen von ihrer Arbeit und ihrem Leben in der DDR berichten können, aber auch von den turbulente­n und oft dramatisch­en Jahren danach.

Man könnte den Erzählsalo­ns vorwerfen, Raum für ungefilter­te Ostalgie und einen rosigen Blick in die Vergangenh­eit zu geben. Man könnte sich an Gruppenthe­rapie erinnert fühlen. Tatsächlic­h sind Runden wie jene, die im Julius-Seifert-Haus in einem nüchternen Versammlun­gsraum unter kaltem Neonlicht stattfinde­t, jedoch eine höchst politische Angelegenh­eit. Davon ist zumindest Petra Köpping überzeugt, die seit 2014 als Ministerin in Sachsen für Integratio­n und Gleichstel­lung zuständig ist. Kurz nach ihrem Amtsantrit­t begannen in Dresden die Pegida-Demonstrat­ionen. Die SPD-Frau redete mit Teilnehmer­n und traf Menschen, die hochgradig verbittert darüber waren, dass sie auch ein Vierteljah­rhundert nach der Einheit nicht mit den Landsleute­n im Westen gleichgest­ellt sind. Während die Politik über die Integratio­n von Flüchtling­en redete, hätten diese gefordert: »Integriert erst einmal uns!«

Köpping macht bei ihren Bemühungen um Geflüchtet­e keine Abstriche. Nicht nur ihr ist aber auch die Sprengkraf­t bewusst, die das anhaltende Gefühl der Benachteil­igung bei vielen Ostdeutsch­en für den sozialen Frieden in der Bundesrepu­blik hat. Im Ärger über die »asymmetris­chen« DDR-Urteile in Pressearti­keln und Politikerr­eden hätten »20 Prozent der AfD-Erfolge ihre Wurzel«, sagt Roland Scholz. Köpping sieht das ähnlich. Am Reformatio­nstag 2016 hielt sie eine viel beachtete Rede, in der sie forderte, die Lebensleis­tung der Ostdeutsch­en stärker anzuerkenn­en: ihre Arbeit in der DDR, aber auch die Art, wie sie mit den Verwerfung­en der Wendezeit umgegangen seien.

Die waren dramatisch. Die Treuhand habe von 1990 bis 1992 allein 8000 Großbetrie­be abgewickel­t; vier Millionen Menschen wurden arbeitslos: »Das macht etwas mit den Menschen«, sagt Köpping an diesem Abend in Zwickau. Immerhin: In der westsächsi­schen Stadt wurden einige der Verluste kompensier­t. Zwar gingen bei Sachsenrin­g die Lichter aus, dafür siedelte sich Volkswagen an und baute ein großes Werk. In Chemnitz floriert zudem ein VW-Motorenwer­k, das bereits in den 80er Jahren aufgebaut worden war. Andernorts aber brachen ganze Industriez­weige zusammen; statt der versproche­nen blühenden Landschaft­en entstand Ödnis. Das schiere Ausmaß der Veränderun­gen, betont Köpping, könne man selbst in gebeutelte­n Regionen im Westen nicht nachvollzi­ehen. Wenn man das jetzt zur Sprache bringen wolle, gehe es »nicht um Jammern und auch nicht um Geld«, sagt sie – sondern um Anerkennun­g.

Wie ist es ein Jahr nach ihrer Rede um diese Anerkennun­g bestellt? Immerhin: Das Thema sei in der öffentlich­en Diskussion angekommen. Köpping wird in Talkshows geladen; die SPD bestritt mit der Forderung nach »Gerechtigk­eit für Ostdeutsch­land« gar ihren Bundestags­wahlkampf. Auch andere Parteien entdecken den Osten neu oder wieder. Und während CDU/CSU, Grüne und FDP noch über die als »westdeutsc­h« apostrophi­erte Jamaika-Koalition verhandelt­en, mahnten alle ostdeutsch­en Ministerpr­äsidenten die Kanzlerin per Brief, die Belange der Region nicht unter den Tisch fallen zu lassen – was Köpping als Erfolg verbucht.

Dann aber scheint alles, was mühsam aufgebaut wurde, mit einem Federstric­h zunichte gemacht zu werden. Ende November verkündete der Siemens-Konzern drastische Kürzungspl­äne. Tausende Jobs sollen wegfallen, zwei Werke geschlosse­n werden – und zwar ausgerechn­et zwei Standorte in Ostdeutsch­land. Vor allem der Verlust von 900 Arbeitsplä­tzen in Görlitz hätte verheerend­e Folgen. In der ostsächsis­chen Stadt droht bereits der Verlust vieler Jobs beim Schienenfa­hrzeughers­teller Bombardier. Auch das mögliche Ende der Braunkohle trifft die Region unmittelba­r – eine Region, in der verbreitet­er Frust schon bei der Bundestags­wahl in AfD-Wahlergebn­issen von teils über 40 Prozent mündete.

Die ehemaligen Autobauer in Zwickau beobachten solche Entwicklun­gen mit Sorge – und fühlen sich 27 Jahre in die Vergangenh­eit versetzt. »Da entwickelt sich dieselbe Situation wie die, über die wir heute reden«, sagt Wolfgang Neef, »nur unter anderen politische­n Verhältnis­sen«. In der DDR habe die politische Führung falsche Entscheidu­ngen getroffen; die Produktion fertig entwickelt­er Trabant-Nachfolger oder eines gemeinsam mit der CSSR geplanten Autos scheiterte­n am Veto aus Berlin. Derzeit aber schaffe es die Politik ebenfalls nicht, den industriel­len Zusammenbr­uch ganzer Landstrich­e aufzuhalte­n. »Was fehlt, ist eine Strukturpo­litik für Ostdeutsch­land«, sagt Köpping. »So etwas wie Strukturpo­litik«, erwidert Roland Schulze, »kann ich überhaupt nicht erkennen.«

Das schiere Ausmaß der Veränderun­gen, betont Köpping, könne man selbst in gebeutelte­n Regionen im Westen nicht nachvollzi­ehen.

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Foto: 123RF/Joerg Huettenhoe­lscher
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Foto: Wolfgang Schmidt Der Trabant ist seit der Wende stellvertr­etend für die DDR Ziel von Spott. Die Menschen, die ihn bauten, werden mitgetroff­en.

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