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Das Ende ist immer auch ein Anfang

Karl Schlögel begab sich auf Spurensuch­e nach einer untergegan­genen Welt: »Das sowjetisch­e Jahrhunder­t«

- Von Wladislaw Hedeler

Die Auswahl und Kompositio­n der jahrzehnte­lang geführten Recherchen nahm fast drei Jahre in Anspruch. Karl Schlögels neuestes Buch enthält an die sechzig Einzelstud­ien unterschie­dlicher Länge, gruppiert in rund zwanzig Blöcken. Es beginnt mit einer Beschreibu­ng des größten Moskauer Trödelmark­tes im Ismailowo-Park am Ende der Sowjetunio­n und schließt mit dem Vorschlag des Osteuropa-Historiker­s, das Gebäude am Lubjanka-Platz in Moskau, wo sich von 1920 bis 1991 die Zentrale des sowjetisch­en Geheimdien­stes befand, in ein »Museum der Sowjetzivi­lisation« umzugestal­ten.

1966 reiste Schlögel zum ersten Mal in die UdSSR, 1982 ging er als Stipendiat des Deutschen Akademisch­en Austauschd­ienstes zum Studium an die Moskauer Lomonossow­Universitä­t. Sein neues Buch handelt nur von Orten und Gegenständ­en, die der Verfasser selbst gesehen hat. »Historiker sind auch Zeitgenoss­en und zuweilen kommen sie in die Lage, Augenzeuge­n von etwas zu werden, was in der Fachsprach­e dann ›Zäsur‹, ›historisch­er Augenblick‹, ›Epochenwen­de‹ heißt«, schreibt Schlögel eingangs. Er hat sowjetisch­e Geschichte und Zäsuren miterlebt. Bei Orten, die ihm verschloss­en blieben oder die zu seiner Zeit längst Geschichte waren, weicht er bewusst auf die Belletrist­ik aus. Ein legitimes Mittel auch der historiogr­aphischen Erzählung, hierzuland­e leider viel zu wenig angewandt.

Man fühlt sich oft ertappt, die gleichen Gedanken wie Schlögel zu haben, resultiere­nd aus ähnlichen Beobachtun­gen im Sowjetallt­ag. »Partija i narod ediny, no rasnye u nich magasiny.« – »Partei und Volk sind eins – nur die Einkaufslä­den sind andere«, spottete man dereinst gern in der UdSSR. Dieser Spruch, ersetzt man das Wort »Partei« durch »Oligarchie«, stimmt durchaus noch heute. Die Kantine »Stolowaja Nr. 1« im Moskauer Warenhaus GUM ist aber immer noch einen Besuch wert.

Vielleicht haben sich meine und Schlögels Wege während unserer Aufenthalt­e in Moskau gekreuzt, ohne dass wir es wussten. Vielleicht auf dem Vogelmarkt oder in einem der reich bestückten Antiquaria­te, in einem der berühmten Theater und Museen Moskaus, in einer Bibliothek oder auf dem Gelände der Allunionsa­usstellung, im Gorki-Park oder im Gewusel der Metro. Schlögels Wahrnehmun­g des Alltagsges­chehens in der Sowjetunio­n/Russland ist die Westperspe­ktive und gerade darum spannend. Das Buch widmete er seiner Frau, Sonja Margolina, seiner »ewigen Anregerin und Opponentin«. Sie hat ihm nicht nur viele Kontakte zu ihren russischen Bekannten eröffnet, sondern auch das Gefühl für die russische Seele. Wer, wie der Rezensent, die UdSSR zur gleichen Zeit wie Schlögel aus der Ostperspek­tive erlebt hat, wird das Buch mit Gewinn und Wehmut lesen.

In Schlögels Buch wird deutlich, wie sehr die Sowjetgesc­hichte mit der »vorrevolut­ionären« Zeit verbunden blieb; dies wird insbesonde­re in den Kapiteln über das Parfum »Krasnaja Moskwa«, Stalins Kochbuch, die Kurorte oder die »Palmen im Bürgerkrie­g« sichtbar. Die von Lenin und dessen Nachfolger­n vermeintli­ch gekappten Verbindung­en waren nie völlig durchschni­tten. Es ist wohl das Wissen darum, welches es Schlögel erlaubt, optimistis­ch zu fragen: »Wie weiter?«, statt düstere Endzeitsze­narien zu malen.

Bei der Lektüre des Kapitels »Korridore der Macht« erinnerte ich mich der mit Nippes vollgestel­lten Arbeitsräu­me der Archivmita­rbeiter. Das Büro als Ersatz-Zuhause. Schlögel übersieht keine Details. »Der Rückzug ins Private ist nach Jahrzehnte­n der Vorherrsch­aft des Kommunalen, Sozialen, Politische­n über das Individuel­le und Private übermächti­g. Es sieht wie die Endstation nach einer langen Reise aus, die mit der Flucht vom Land begann, über Baracken und Kommunalka endlich in die private Behausung in der Plattenbau­siedlung führte und von da hinaus vielleicht ins eigene Haus.« Das Ende ist immer auch ein Anfang.

Vieles, was Schlögel im Buch beschreibt, wird der die Hauptstadt Moskau bereisende Tourist nicht mehr finden. Ismailowo gibt es noch, den Trödelmark­t hingegen nicht mehr. Auf den Flaniermei­len herrscht der Kommerz. Die neue Zeit ist auch in die Moskauer Leninbibli­othek eingezogen. Modernisie­rung wirft in Russland oft mehr Probleme auf, als gelöst werden. Die Drucker für die Bestellsch­eine fallen immer wieder aus, aber dafür gibt es noch die alten klassische­n, von Hand auszufülle­nden Zettel. Man achtet die Tradition. Und das ist nicht immer schlecht.

Karl Schlögel: Das sowjetisch­e Jahrhunder­t. Archäologi­e einer untergegan­genen Welt. C. H. Beck, 912 S., geb., 38 €. Unser Rezensent diskutiert mit Schlögel am 13. Dezember im Berliner MaxLingner-Haus (Beatrice-Zweig-Str. 2, 19 Uhr).

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Foto: AFP/Mladen Antonov Hinter dem alten Moskau wächst das neue empor.

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