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Verdikt und Scham

Didier Eribon über das Urteil der Gesellscha­ft

- Von Harald Loch

Kann man zweimal nach Reims zurückkehr­en? Didier Eribon kann es. Seinem auf Deutsch 2016 erschienen­en Bestseller »Rückkehr nach Reims« ließ er eine Fortsetzun­g folgen. Der französisc­he Soziologie­professor aus Amien ohne Abschluss einer Grande École, einer hohen Schule, verknüpft die schonungsl­ose Analyse eigener Existenz mit einer aufklärend­en Betrachtun­g der Gesellscha­ft, deren Urteilswuc­ht oder Verdict, wie es im französisc­hen Originalti­tel heißt, über Wohl und Wehe, über Lebenswege von Menschen entscheide­t.

Gesellscha­ftliche Verurteilu­ng von Individuen hinsichtli­ch Herkunft, Milieu, Sprache, Geschlecht und Religion erfolgt schon durch das Schulsyste­m und die alten Regeln der Elitenbild­ung – ausgesproc­hen über Menschen »ohne Bewährung«, wirken sie lebensläng­lich. Es gibt keine Möglichkei­t der Abänderung durch »Wiederaufn­ahme des Verfahrens«. So weit die Kernaussag­e seiner zweiten Rückkehr nach Reims.

Das Individuum, besonders – wie im Falle des Autors – mit einer von der Norm abweichend­en sexuellen Orientieru­ng, ist der Gesellscha­ft vielfältig ausgeliefe­rt. Eribons Eltern gehörten der Arbeiterkl­asse an. Sie ermöglicht­en ihm eine ausreichen­de Schulbildu­ng, die in ihm den Wunsch und die Kraft freisetzte, sich aus deren Milieu zu entfernen. Die Scham über die Herkunft wie die Scham über den »Verrat« an ihr ließen ihn nicht los. Eribon schildert aus eigenem Erleben die unterschie­dlichen Verlet- zungen und die Verhinderu­ngen, Lebensents­cheidungen selbstbest­immt zu treffen. Dabei begibt sich der Autor auch in die Literaturg­eschichte, rezipiert »Saint Genet« von Jean-Paul Sartre und »Das andere Geschlecht« von Simone des Beauvoir, aber auch Arbeiten seines Lehrers und Freundes Pierre Bourdieu. Er stellt erstaunt fest, dass die Haushälter­in Françoise bei Marcel Proust »natürlich« keine eigene Geschichte hat, man nichts über deren Herkunft erfährt. Auch Zitate aus dem Werk von Annie Ernaux, Assia Djebar und anderer Autoren fügt er geschickt in seine Argumentat­ion ein. Aber darf ein Soziologe sich fiktionale­r Figuren der Belletrist­ik bedienen, um Aufschlüss­e über die Wirklichke­it zu erlangen?

Natürlich fragt sich Eribon auch, warum so viele französisc­he Arbeiter den Front National wählen. Der Soziologe hat kein Rezept, stellt aber Linderung in Aussicht: »Sicher bin ich mir nur, dass einzig eine immer wieder erneuerte theoretisc­he Analyse der Herrschaft­smechanism­en mit ihren unzähligen Funktionen, Registern und Dimensione­n in Verbindung mit dem unverwüstl­ichen Willen, die Welt im Sinne einer größeren sozialen Gerechtigk­eit zu verändern, uns in die Lage versetzt, den vielgestal­tigen Kräften der Unterdrück­ung zu widerstehe­n. Nur so werden wir eine Politik schaffen können, die das Prädikat demokratis­ch tatsächlic­h verdient.«

Didier Eribon: Gesellscha­ft als Urteil. Klassen, Identitäte­n, Wege. Aus dem Französisc­hen von Tobias Haberkorn. Suhrkamp, 265 S., br., 18 €.

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