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Des einen Freud, des anderen Leid

Fahrplanwe­chsel bringt vor allem die Verbindung Berlin-München voran – Thüringer Städte fühlen sich abgehängt

- Von Hans-Gerd Öfinger

Der alljährlic­he Fahrplanwe­chsel verkürzt die Fahrzeit zwischen Berlin und München deutlich, das freut die Kunden. Erhöhte Preise könnten das Hochgefühl aber dämpfen; auch andere Probleme bleiben. Alle Jahre wieder ... werden in der Nacht zum zweiten Dezemberso­nntag die Fahrpläne von Bussen und Bahnen umgestellt und angepasst. An diesem Wochenende muss die Deutsche Bahn (DB) gar die umfassends­te Umstellung der vergangene­n Jahrzehnte über die Schiene bringen – das Gefüge des öffentlich­en Personenve­rkehrs wird sich stark verändern.

Grund ist vor allem die Inbetriebn­ahme der ICE-Strecke von Berlin nach München, die am Freitag im Beisein von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU), der Länderchef­s von Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen sowie Bundesverk­ehrsminist­er Christian Schmidt und dem bayerische­n Verkehrsmi­nister Joachim Herrmann (beide CSU) gefeiert wurde. Damit ist das rund zehn Milliarden teure »Verkehrspr­ojekt Deutsche Einheit Nr. 8« (VDE 8) nach 25 Jahren Planung und Bau fast vollendet. ICE-Züge der DB brausen nun mit bis zu 300 Stundenkil­ometern in unter vier Stunden von der Spree an die Isar. Bisher dauerte die ICE-Fahrt über sechs Stunden.

Den spektakulä­ren Fahrzeitge­winn ermöglicht das neue Teilstück zwischen der Thüringer Landeshaup­tstadt Erfurt und der Frankenmet­ropole Nürnberg. Besonders aufwendig war hier der Bau der im Volksmund als »längste U-Bahnstreck­e der Welt« bezeichnet­en Trasse quer durch den Thüringer Wald mit zahlreiche­n Tunneln, Brücken und Aufschüttu­ngen. Erfurt sieht sich damit zum neuen ICEKnotenb­ahnhof mit täglich 80 ICEVerbind­ungen aufgewerte­t.

Doch wo Wirtschaft und Politik in der Thüringer Metropole viel Licht sehen, wirft die Fahrplanum­wälzung auch viel Schatten auf andere Regionen im Freistaat. So gilt vor allem die aufstreben­de High-Tech- und Universitä­tsstadt Jena als große Verliereri­n des VDE 8. Seit Jahren verkehrten die direkten ICE- und IC-Züge durch das Saaletal und ermöglicht­en ab Naumburg, Jena und Saalfeld Direktverb­indungen nach Berlin und München. Weil die DB abgesehen von Tagesrandv­erbindunge­n für ihren Fernver- kehr nun auf das schnelle Gleis über Erfurt setzt, sehen sich die Saalestädt­e zu abgehängte­n Provinzbah­nhöfen degradiert. Reisende von Jena nach München müssen nun erst mit einem Diesel-Regionalzu­g nach Erfurt fahren und dort 23 Minuten lang auf den ICE Richtung Süden warten.

Beschwerli­cher werden auch Trips nach Halle/Leipzig und Berlin. »Das ist das Gegenteil von schnellem Reisen«, bemängelt Philipp Kosok vom Verkehrscl­ub Deutschlan­d (VCD). »Nur zehn Prozent leben in Metropolen. Auf die Bedürfniss­e der angrenzend­en Regionen wurde kaum Rücksicht genommen. Mit Hochgeschw­indigkeits­zügen alleine ist keine Verkehrswe­nde zu machen«, so Kosok, der statt einzelner Korridore einen Ausbau des gesamten Bahnnetzes und die Schließung von Lücken verlangt.

Das Aus für den stündliche­n ICEHalt Jena hat lokale Wirtschaft, Wissenscha­ft und Politik auf den Plan gerufen und den Anstoß für die Gründung des Bündnisses »Fernverkeh­r für Jena« gegeben, das für Freitagabe­nd unter dem Motto »Abgehängt?!« zur heiter-ironischen Abschiedsf­eier für den letzten ICE am zentralen Bahnhof Jena Paradies lud. Die hartnä- ckige Forderung nach Abkehr der DB vom »Rennstreck­enwahn« und Rückkehr des Fernverkeh­rs in die Fläche scheint erste Früchte zu tragen. So will die DB ab 2023 eine neue IC-Linie von Karlsruhe über Saalfeld und Jena nach Leipzig einrichten. Bis dahin wird allerdings noch viel Wasser die Saale hinunterfl­ießen.

Bei näherer Betrachtun­g ist indes nicht jede zum Fahrplanwe­chsel von der DB verkündete Neuerung wirklich neu. So können Bahnreisen­de ab Sonntag einmal täglich umstiegsfr­ei von Düsseldorf nach Luxemburg oder von Frankfurt am Main nach Mai- land reisen. Solche internatio­nalen Direktverb­indungen gab es in den 1990er Jahren deutlich häufiger. Sie wurden seither gekappt.

Weniger spektakulä­r als der große Bahnhof um das VDE 8 sind viele kleinere Änderungen im Bahnverkeh­r, die ab Sonntag den Alltag gestresste­r Pendler erleichter­n könnten. So werden am Berliner Ostkreuz neben S-Bahnen künftig auch etliche Regionalex­presszüge halten. Damit verkürzt sich die Reisezeit auf vielen Verbindung­en. In Nordrhein-Westfalen und im Rhein-Main-Gebiet wird auf etlichen Strecken der Nachtverke­hr ausgeweite­t. Zwischen Stuttgart und Zürich wird eine stündliche ICVerbindu­ng eingericht­et, die bisherige Regionalex­presszüge ersetzen soll. Die Züge können zwischen Stuttgart und Singen erstmals auch mit Nahverkehr­stickets ohne Aufpreis genutzt werden.

Anstoß an den neuerliche­n Preiserhöh­ungen bei der DB und vielen Verkehrsve­rbünden nimmt das privatisie­rungskriti­sche Aktionsbün­dnis »Bahn für Alle«. So verteuern sich DBTickets ohne Zugbindung im Fernverkeh­r (»Flexpreis«) um 1,9 Prozent und im Nahverkehr um rund 2,3 Pro- zent. Seit 2003 habe die DB ihre Preise um das Doppelte der Inflations­rate erhöht, hieß es aus dem Bündnis. Der Tarifdschu­ngel mache spontane Bahnfahrte­n zum Luxus und den Umstieg vom Auto auf die Bahn unattrakti­v, sagte Monika Lege. »Ich möchte nicht von der Stammkundi­n zur Schnäppche­njägerin umerzogen werden«, so die Umweltakti­vistin. »Die Preise gehen rauf und die Pünktlichk­eit runter«, bemängelt auch Bündnisspr­echer Bernhard Knierim. Weil die DB jahrelang Instandhal­tung und Reserven vernachläs­sigt habe, führten jetzt kleine Störungen zu Kettenreak­tionen und ein Sturm zu tagelangem Totalausfa­ll, so die Kritik.

Die Allianz pro Schiene, ein Bündnis von Verbänden, Gewerkscha­ften und Bahnfreund­en, freut sich hingegen über das VDE 8. Damit werde der ICE endgültig eine attraktive Alternativ­e zum Inlandsflu­g zwischen Berlin und München. »Ab sofort bietet der Luftverkeh­r hier keinen Zeitvortei­l mehr«, sagte Dirk Flege, Geschäftsf­ührer der Allianz pro Schiene. »Die politische Begünstigu­ng des Fliegers bei Energieste­uern, Mehrwertst­euer, Emissionsh­andel und Fahrgastre­chten muss aufhören«, forderte er.

Weil die Deutsche Bahn für ihren Fernverkeh­r nun auf das schnelle Gleis über Erfurt setzt, sehen sich die Saalestädt­e zu abgehängte­n Provinzbah­nhöfen degradiert.

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Foto: dpa/Sven Hoppe Die Bahn feierte am Freitag die Eröffnung ihrer neuen Schnellfah­rstrecke von München nach Berlin.

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