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Auf den Schrank gekommen

Barrie Kosky inszeniert­e »Anatevka« an der Komischen Oper Berlin

- Von Roberto Becker

Anatevka« in Ostberlin, ein paar Gehminuten vom Holocaust-Mahnmal entfernt, von Barrie Kosky inzeniert. Das hat seine Richtigkei­t, das ist politisch korrekt und grandios gemacht. Es passt an diesen Ort, zu diesem Intendante­n und Regisseur. Und zu seinem Publikum. Es hat obendrein, leider, einen direkten Bezug zu einer Gegenwart, in der Worte wie »Flüchtling« nichts Historisch­es, sondern etwas sehr Aktuelles haben.

»Anatevka« am gleichen Ort, an der Komischen Oper Berlin, in den 1970er Jahren, einer Zeit mit einem klaren Koordinate­nsystem, für und gegen wen im Nahen Osten der damals real existieren­de Staat und seine Bürger Position zu beziehen hatten. Was damals auf die Bühne kam, war eine kultur-politische Großtat. Irgendwie gegen den Strich. So subversiv, wie eben nur Kunst sein kann. Und es war wohl auch eine Machtdemon­stration des Gründers und Übervaters der Komischen Oper, des Regisseurs Walter Felsenstei­n.

Klar, dass der heutige Intendant Barrie Kosky auf die Idee kommen musste, im 70. Jubiläumsj­ahr des Hauses mit einer eigenen Neuinszeni­erung daran zu erinnern. Aber was ist »Anatevka« eigentlich? Ein Musical? Oder eher ein Schauspiel mit Musik? Jedenfalls ist es ein Ausflug in eine untergegan­gene SchtetlWel­t der Juden irgendwo im Russland eines Zaren, bei dem gelegentli­che Pogrome zum politische­n Normalzust­and gehörten. Zum Stück gehört der berühmte Stoßseufze­rHit des Milchmanns Tevje: »Wenn ich einmal reich wär«. Und eine Geschichte, gegen deren emotionale­s Überwältig­ungspotenz­ial man sich kaum wehren kann.

Das rührt nicht etwa daher, dass diese abgeschott­ete, auf ihren Traditione­n ruhende jüdische Mikrowelt so toll wäre. Im Gegenteil. Oder, wie der berühmte Milchmann in seinen Zwiegesprä­chen mit seinem Herrgott sagen würde: anderersei­ts ... Das Überwältig­ende ist Tevjes tiefe Menschlich­keit, wenn er sich auf das Neue einlässt und, zumindest bei den Partnerwün­schen von zweien seiner Töchter, die starren Traditione­n zu überwinden vermag. Großartig, wie er seiner Golde einen Traum vorspielt und die tote Großmutter aufmarschi­eren lässt, damit auch seine Frau akzeptiert, dass seine älteste Toch- ter nicht den alten, aber reichen Metzger, sondern den armen, aber von ihr innig geliebten Schneider heiraten darf – Dorf-Skandal hin oder her.

Des Milchmanns Hütte und das ganze Schtetl Anatevka sind im Bühnenbild von Rufus Didwiszus auf den Schrank gekommen. Kosky wollte keine Chagall-Folklore, aber doch bei der Sache bleiben. Und das ist grandios gelungen. Ein verwischte­r Wald (à la Gerhard Richter) im Hintergrun­d. Und auf der Drehbühne ein Gebirge aus Schränken. Die alles sind: draußen und drinnen und die Türen dazwischen. Das funktionie­rt. Es rettet aber nicht vor der Überwältig­ung. Allein schon Max Hopp als Milchmann Tevje und Dagmar Manzel als seine Frau Golde reißen jede optische Verfremdun­g wieder ein. Was ist schon Anatevka, sagt Golde im Anpassungs­modus an die aktuelle Vertreibun­g am Ende: ein Stuhl, ein Bett, ein Schrank. Was die Russen sich nicht schnappen, ist schnell verladen auf den Wagen des Milchmanns.

Kosky kriegt das Kunststück fertig, ein Anatevka auf die Bühne zu stellen, das ohne jeden FolkloreKi­tsch auskommt und dennoch tief berührt. Für die beiden zentralen Rollen so maßgeschne­iderte Darsteller zu haben, die auch singen können, aber vor allem als Menschen mit Herz und Gefühl, Schnauze und Witz überzeugen, ist die halbe Miete. Das geht aber so weiter: Ob nun Jens Larsen als der geprellte Bräutigam Lazar Wolf oder die wunderbare Barbara Spitz als nicht unterzukri­egende Heiratsver­mittlerin Jente, ob Johannes Dunz als armer Schneider Mottel, der seine Zeitel (Talya Lieberman) und Ezra Jung als smarter Revoluzzer Perchik, der seine Hodel (Alma Sadé) bekommt, man kann gar nicht anders, als mit ihnen zu fühlen.

Nicht nur, weil Regisseur Kosky einen untrüglich­en Instinkt für Timing und Tempo hat, wird dieses neue »Anatevka« ein Wurf. Er hat auch den fabelhaft spielfreud­igen Chor und ein perfektes Dutzend Tänzer, die jüdisch und russisch tanzen können (Choreograf­ie: Otto Pichler). Und er hat den Dirigenten Koen Schoots, der das Orchester der Komischen Oper derart mit BroadwaySc­hmiss auflädt, dass es eine Freude ist. Der anhaltende Erfolg dieses Stücks ist eine ausgemacht­e Sache! Da gibt es kein Anderersei­ts.

Kosky stellt ein Anatevka auf die Bühne, das ohne jeden Folklore-Kitsch auskommt und dennoch tief berührt.

Nächste Vorstellun­gen: 9., 16.12.

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Foto: Iko Freese/drama-berlin.de Alma Sadé (Hodel), Max Hopp (Tevje)

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