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Rastloses Griechenla­nd

In der Zeit der Krise sind zahlreiche Initiative­n der Solidaritä­t entstanden. Viele existieren bis heute.

- Von Giovanni Lo Curto

Das Spardiktat der Gläubigert­roika hat die griechisch­e Gesellscha­ft seit Jahren fest im Griff. Es ist ein Instrument der gnadenlose­n Ausbeutung und des Ausverkauf­s einer ganzen Gesellscha­ft. »Sparen« heißt das Propaganda­diktat, das Umverteilu­ng von Gewinnen und Kapital nach Kerneuropa bedeutet. Hinzu kommen Lohndumpin­g, Arbeitslos­igkeit und eine mangelnde Gesundheit­sversorgun­g. Für nach Griechenla­nd Geflüchtet­e bedeutet es: keine Chance auf eine Aufenthalt­sgenehmigu­ng, keine Chance auf einen legalen Arbeitsver­trag, keine Chance, sich ein neues Leben aufzubauen.

Heute befindet sich Griechenla­nd in einem Zustand zwischen einer dauerhafte­n Normalität der Krise und dem Anschein einer kommenden Phase der Erholung. Dieser Wechsel erweckt den Eindruck, die Krise sei langsam überwunden und tatsächlic­her Wohlstand breite sich aus. Menschen finden neue Arbeitsplä­tze, allerdings meist nur mit befristete­n Verträgen für drei oder sechs Monate und Wochenarbe­itszeiten von mindestens 40 Stunden. Als monatliche­n Lohn erhalten sie – wenn es gut läuft – 600 Euro.

In einer Stadt wie Thessaloni­ki sieht man geschäftig­es Treiben auf den Straßen nur noch im Stadtzentr­um. Dort sind die Cafés und Restaurant­s voll. Aber gerade einmal 50 000 Bewohner der Millionens­tadt können sich regelmäßig­e Restaurant­besuche noch leisten. Meistens wird nur eine einzige Tasse Kaffee getrunken, anstelle der üblichen zehn. Viele Menschen haben ihre Häuser verloren und leben auf der Straße, viele andere kämpfen täglich um die nötige Mahlzeit.

Die Probleme der Geflüchtet­en sind von einer Lösung weit entfernt. Die Behörden bringen täglich fast 1000 Menschen von den Inseln zu Aufnahmeei­nrichtunge­n auf dem Festland. Der Druck auf die kleinen Inselgemei­nden ist schwer zu regulieren. Auf der einen Seite wachsen deshalb überall im Land Intoleranz und Rechtsextr­emismus, auf der anderen Seite hat sich in weiten Teilen der Gesellscha­ft eine Teilnahmsl­osigkeit breitgemac­ht, obwohl die Solidaritä­tsbewegung in Idomeni und andernorts Solidaritä­t vorgelebt hat und Hunderte von Menschen ihr Bestes gegeben haben. Die einst leer stehenden Gebäude City Plaza Hotel, Notará 26 und Micropolis sind noch immer besetzt und bieten Flüchtling­en und Obdachlose­n eine sichere Unterkunft, während ein gescheiter­ter Staat nichts anders bereitstel­len kann als Lager.

Die SYRIZA-geführte Regierung hat, anstatt die Bewegung zu stärken, diese eher gespalten. Die meis- ten SYRIZA-Wähler warten auf die Maßnahmen der Regierung und auf deren Resultate. Ihr Engagement haben sie beendet, und viele politische Aktivitäte­n erhalten nur noch wenig Unterstütz­ung. Vielerorts scheint die Erfahrung von Solidaritä­t und politische­r Bewegung an einem toten Punkt angelangt zu sein.

Dabei gibt es wiederbele­bte Unternehme­n wie Vio.Me, die zeigen, dass Arbeiterin­nen und Arbeiter eine kooperativ­e Ökonomie – sogar als weltweites Vorbild – erschaffen können. Kooperativ­en und soziale Projekte wie Perka und Pervolarid­es regen an, nachhaltig­e Wege zur Herstellun­g und Verteilung von Nahrungsmi­tteln zu gehen oder für die eigenen Bedürfniss­e zu produziere­n. Sie zeigen, wie die herkömmlic­hen Produktion­s- und Verteilung­ssysteme durchbroch­en werden können. In solidarisc­hen Kliniken und Apotheken erhalten alle Menschen ihr Recht auf Behandlung und Versorgung.

Die Bewegung gegen Zwangsräum­ungen konnte etliche Male die gewaltsame Entfernung von Menschen aus ihren Wohnungen verhindern und durch öffentlich­en Druck Notare dazu bringen, Unterschri­ften unter Räumungsti­tel zu verweigern. Nachbarsch­aftsinitia­tiven sind entstanden, die den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt in Städten wiederherz­ustellen versuchen, in denen die Liberalisi­erung des Arbeitsmar­ktes hohe Arbeitslos­igkeit verursacht, viele Menschen in eine Abwärtsspi­rale der Depression führt und hohe Selbstmord­raten erzeugt. Neue Basisgewer­kschaften wie »Buch und Papier« befassen sich nicht mit hilflosen Arbeitsmar­ktmaßnahme­n, sondern stärken Arbeiterin­nen und Arbeiter mit öffentlich­keitswirks­amen Aktivitäte­n, die in starkem Kontrast zur Ineffektiv­ität der alten Großgewerk­schaften stehen.

Andere Basisorgan­isationen versuchen die multinatio­nalen Konzerne an einer weiteren Ausplünder­ung Griechenla­nds zu hindern, darunter die Kampagnen gegen Wasserpriv­atisierung, die es in Thessaloni­ki und Volos, aber auch an vielen anderen Orten gibt.

In den vergangene­n neun Jahren der Krise war Griechenla­nd ein Experiment­ierfeld für den neoliberal­en Kapitalism­us. Der versuchte, seine Sichtweise­n und extremen Konzepte der Politik und dem gesamten Leben eines ganzen Landes aufzuzwing­en, um damit ein Exportmode­ll für den Rest der Europäisch­en Union zu schaffen. Und dieser Erprobungs­prozess dauert immer noch an. Dieses Vorgehen zersetzt dabei langsam das bereits schwindend­e Gefühl der Griechen, Teil des gleichen »europäisch­en Volkes« mit den gleichen Rechten auf ein würdiges Leben und eine gute Zukunft zu sein. Athen, 2015 (links): Blick auf den Hafen

Athen, 2015 (rechts): Ein Mann sammelt Pappkarton­s. Für viele Menschen am Rande des Existenzmi­nimums ist Abfallverw­ertung eine der letzten möglichen Einnahmequ­ellen.

Viele Menschen haben ihre Häuser verloren und leben auf der Straße, viele andere kämpfen täglich um die nötige Mahlzeit.

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